Das Wirtshaus ist ein magischer Sehnsuchtsort, sagen nicht nur passionierte Trinker, sondern auch Freunde der Geselligkeit. In Zeiten von coronabedingten Lockdowns mit Kneipenschließungen und sozialer Distanzierung sind die Wirtshäuser mehr denn je Orte der Sehnsuchtsflucht geworden, die sich die Menschen wieder erhoffen ohne Restriktionen besuchen und genießen zu können. Und da der Mensch ein Gemeinschaftswesen („zoon politikon“) ist, führte die „Erfindung des Wirtshauses“ vor gut 4.000 Jahren im damaligen Mesopotamien in eine soziale Welt, die zumindest den geselligen Menschen immer viel Befriedigung bescherte. Und für die nicht so geselligen, scheuen Menschen ist, wenn sie den Schritt ins Wirtshaus geschafft haben, der Alkoholeinfluss ein Weg, über den sie immer wieder etwas Geselligkeit erreichen können, ohne sich selbst in ihrer Persönlichkeit verändern zu müssen. Die Entstehung des Wirtshauses als kulturellem Ort ist ohne die Erfindung des Bierbrauens nicht denkbar.
Wie ist das Wirtshaus unter kulturhistorischer und suchtpsychologischer Perspektive einzuordnen? Denn das Wirtshaus ist auch ein Ort der Berauschung und des Kontrollverlustes.
Inhaltsübersicht
Kulturgeschichte des Bierbrauens: Die Wirtschaft – eine Erfindung von Frauen
Bierbrauen ist eine Tätigkeit, die eng mit der Sesshaftwerdung der Menschen vor ca. 15.000 Jahren und dem Einsatz der Frauen im Haus zu tun hat. Getreide (anfangs der „wilde Emmer“, eine alte Weizenform) und Hefe – erst viel später kamen Malz und Hopfen dazu – und allerlei weitere Zutaten, die das Deutsche Reinheitsgebot seit mehr als 500 Jahren ausgemerzt hat, schufen die Grundlage für eines der frühesten berauschenden Getränke in der Geschichte der Menschheit. Die Babylonier kannten bereits mehr als 20 Sorten Bier. Acht bestanden aus Emmer mit etwas Gerste, acht bestanden nur aus Gerste, die anderen waren Mischbiere, in denen meist die Gerste überwog. Je mehr Emmer die Biere enthielten, desto hochwertiger wurden sie eingeschätzt. Und in der Folge waren sie natürlich auch teurer.
Dass das „frühe“ Bier gerade von Frauen, zunächst in Mesopotamien und später in Ägypten, hergestellt wurde, lag an ihrer Rolle als „Frauen des Hauses“, die für die Versorgung und Ernährung der Familie verantwortlich waren. Die Lebensleistungen dieser Frauen werden heute durch die zeitgeistige, aber unhistorische, Verunglimpfung des Wortes „Hausfrau“ mehr und mehr vergessen. Mit den notwendigerweise beim Brauen immer wieder entstehenden Überschüssen machten sie bald auch Geschäfte. Dies war der Entstehungsmoment der Wirtschaft.
Die bierbrauende Hausfrau wurde damit auch zur Wirtin. Sie bot ihr Bier für die erweiterte Familie, Nachbarn und später auch Reisende an. Wirtshäuser waren von Anfang an und sind es heute noch überwiegend Familienunternehmen.
Schon früh entstanden erste Alkoholgesetzte – der Obrigkeit war der Rausch suspekt
In Babylonien entstand schon bald nach der Verbreitung von Wirtshäusern in den häuslichen Wohnzimmern das erste Alkoholgesetz der Welt als Teil des Code Hammurabi (ca. 1.750 v. Chr.). Ein Hinweis darauf, dass die übermäßige Berauschung der Obrigkeit Sorgen machte und man die Exzesse einzudämmen versuchte. Die Wirtin wurde in den Gesetzen u.a. mit dem Tode bedroht, wenn sie obrigkeitslästerliche Reden in ihrer Wirtschaft duldete. Die gesetzliche Bestimmung sah im Einzelnen vor, dass die Wirtin, die in ihrer Gaststätte politische und staatsgefährdende Diskussionen duldete, ohne die Gäste der Obrigkeit auszuliefern, zu töten war. Was jedoch gleichzeitig von Anfang klar war, ist die Tatsache, dass mit Brot, Wein und Spielen die Massen zu beruhigen waren. Genau das Angebotsportfolie von Wirtshäusern!
Das Wärmende am Wirtshaus kommt nicht nur vom Ofen
Gemeinsam am Tisch zu sitzen bei Speis und Trank, schafft eine besondere Atmosphäre. Es schafft Nähe, Wärme und Vertrauen zwischen Menschen. Im Hintergrund lässt sich die urmenschliche Freude des Teilens der Beute des Jagens und der Ergebnisse des Sammelns spüren. Die Gastwirtschaft ist eine langfristige Folge der Sesshaftwerdung der Menschen. Dementsprechend hat sie ihre Wurzeln dort, wo zuerst Städte, Getreideanbau und Bierbrauen entstanden, in Mesopotamien. Im goldenen Halbmond mit den frühen Städten Uruk, Nippur, Babylon, Ninive, Assur und Jericho wurde wohl das erste Bier gebraut. Die Entdeckung des Bieres und die Bierbraukunst lag überwiegend bei den Frauen, die durch ihre starke Rolle als Hausfrauen für die Versorgung und Ernährung der Großfamilie zuständig waren.
Durch die beim Bierbrauen entstehenden Überschüsse entstand vor mehr als 4.000 Jahren die Institution des Wirtshauses, was anfangs nichts anderes war als die Verköstigung im eigenen Heim, in der Stube der Familie. Daraus entwickelte sich dann nach und nach die Kultur der Gaststube, indem man nicht nur überschüssiges Bier an Verwandte und Nachbarn abgab, sondern auch an Durchreisende. Sicher kam dann schnell die Abgabe an Speisen hinzu, so dass die Idee der Wirtsstube, wie sie nunmehr seit Jahrtausenden bekannt ist, geboren war.
Wie der Gastro-Kritiker und Journalist Erwin Seitz (2021) meint, fühlt sich selbst jener Gast, der einzeln am Tisch sitzt, aufgehoben unter den Menschen in der Gaststube. „Im Gasthaus klingt ein Gefühl von Heimat an, ohne von der übrigen Welt abgekapselt zu sein“ (S. 10), meint er. Gerade in Zeiten von Lockdown und sozialer Isolation ist es also an der Zeit, der Institution „Wirtshaus“ eine sozialpsychologische Liebeserklärung zu machen.
Das Gasthaus: Eine der wichtigsten kulturellen Errungenschaften des menschlichen Sozialverhaltens
Das Gasthaus gehört zu den großen Errungenschaften der menschlichen Zivilisation: Der Reisende weiß sich hier ebenso gut aufgehoben wie der Einheimische, für den einen ersetzt es die Behaglichkeit der heimischen Wohnstube, der andere flüchtet sich hierher aus der Enge seiner eigenen vier Wände. Am Wirtshaustisch werden nicht nur Hunger und Durst gestillt, hier werden auch Freundschaften geschlossen und Ehen verabredet, hier wird Streit ausgetragen und Politik gemacht, hier werden Parteien gegründet und hitzige Reden gehalten. Von der Tauffeier über das Hochzeitsmahl bis zum Leichenschmaus – das Zusammenkommen im Gasthaus ist ein prägendes Element des Zusammenlebens, früher und heute, auf dem Land und in der Stadt. Das Wirtshaus ist ein lebendiges und nie endendes Geschichtsbuch. Hier findet sich das Leben mit all seinen Facetten, Dramen, Tragödien und Komödien wieder.
Die kommende postpandemische Renaissance der Wirtshauskultur
Nach der Corona-Pandemie wird die Wirtshauskultur in Deutschland eine Renaissance erleben. Schon im letzten Jahr habe ich einen Bier-Tsunami nach deutlich rückläufigen Produktionszahlen im Jahr 2020 vorausgesagt. Bier hat von allen alkoholischen Getränken am meisten unter den Lockdowns und Einschränkungen seit März 2020 gelitten. Besonders in Deutschland herrscht Bier-Rezession, auch wenn dies viele Beobachter nicht glauben mögen. Und dies war schon so vor der Pandemie. Wurden im Jahr 1994 noch 107 Mill. Hektorliter von der deutschen Brauwirtschaft abgesetzt, waren es im Jahr 2019 nur noch 76 Mill. Hektorliter. Bier hat sich insofern – wirtschaftlich gesehen – vom Star- zum Krisengetränk verändert.
Vielleicht – so kann man aus gesundheitspolitischer Sicht einwenden – handelt es sich aber auch nur um eine Normalisierung des Konsums, da Deutschland viele Jahrzehnte in der internationalen Spitzengruppe des Pro-Kopf-Bierkonsums zu finden war. Im ersten Jahr der Corona-Pandemie 2020 haben die in Deutschland ansässigen Brauereien insgesamt noch rund 71 Mill. Hektorliter Bier abgesetzt. Erst seit November 2021 konnte die Brauwirtschaft wieder einen Zuwachs im Verhältnis zum Vorjahr verzeichnen. Dies steht im Zusammenhang mit den im Verhältnis zum Vorjahr etwas lockereren Regelungen für die Gastronomie.
Im Wirtshaus entstehen Freundschaften, aber keine Revolutionen
Wirtshäuser spielen in vielen Lebensläufen eine wichtige Rolle. Meist werden sie dabei als Ort der Geselligkeit gesehen. Von ihnen gehen keine Revolten oder gar Revolutionen aus, wie dies in Bezug auf Kaffeehäuser ganz anders ist. Hier wurden zumindest revolutionäre Manifeste entwickelt und diskutiert. Marx und Engels waren begeisterte Kaffeetrinker und ließen sich gerne im Kaffeehaus blicken. Ganz anders das Wirtshaus. Unter dem zunehmenden Alkoholeinfluss sedieren sich aufrührerische Gelüste und vermeintliche Revolutionäre entpuppen sich als Maulhelden. Hier findet man zusammen, ist friedfertig und will Harmonie erleben, auch mit den als andersartig erlebten Menschen. Und den Fremden zumal. Auf die ist man neugierig. Und im Idealfall werden sie integriert.
In einem Kölschen Wirtshaus bleibt man selten lange allein, es sei denn man will es unbedingt. Und die anderen Gäste können es einem dabei richtig schwer machen. Das Wirtshaus verlangt eine gesellige und meist auch friedfertige Atmosphäre. Man kann sich heutzutage kaum mehr vorstellen, dass die politische Karriere von Adolf Hitler in Bierkellern und Gastwirtschaften mit Hassreden und Aufrührertum begann. Aufrührerische Reden in Wirtshäusern gehören seit der Erfindung des Radios und der anderen Massenmedien überwiegend der Vergangenheit an. Nur noch in wenigen Hinterzimmern wird es politisch.
Überhaupt der Frieden…
Auf Dauer bevorzugen die Gäste im Wirtshaus die Gemütlichkeit. Und die ist friedfertig. Dies ist schon seit Jahrhunderten so. Viele Gäste aus dem Ausland rühmten seit Jahrhunderten diese besonders in Deutschland verbreitete Wirtshauskultur. Keine Sprache kennt ein adäquates Wort für Gemütlichkeit.
Auch wenn es immer wieder Wirtshausschlägereien gab, die sicherlich alkoholinduziert waren, überwiegt das Friedfertige. Am Ende des Mittelalters (vor allem ab dem mittleren 15. Jahrh.) wurde die Sichtweise auf den Alkohol und vor allem das Betrunkensein kritischer. In dieser Zeit mehrten sich dann auch die Darstellungen von Wirtshausschlägereien und die entsprechenden Warnungen davor.
Natürlich war es schon immer im Interesse des Wirtes, dass die Gäste einerseits viel konsumierten, damit die Umsätze und Gewinne hoch sind, dass sie aber andererseits nicht gewalttätig wurden, weil dies Ärger mit der Obrigkeit und Beschädigungen des Wirtshauses und vor allem Verletzungen unter den Gästen mit sich brachte.
Der gute Wirt hatte also auch die Aufgabe, darauf zu achten, dass diese Gratwanderung gelingt. In heutiger Zeit wird dieses Thema unter dem Begriff des „responsible serving“ (Dugan, 2022) subsummiert. Dies bedeutet aber vor allem, dass Wirt und Wirtshauspersonal ein wachsames Auge auf die Gäste behält und Gefahrensituationen frühzeitig erkennen und entschärfen. Ganz wichtig war über Jahrhunderte, dass die die männlichen Wirtshausbesucher ihrer Friedfertigkeit versicherten, vor allem wenn sie Waffen mit sich trugen.
Ideal für den Wirt: Die Gäste bleiben lange und trinken viel, aber nicht zu viel
Lange Zeit galt das Zuprosten in Wirtshäusern unter Männern als notwendige Friedensgeste. Man versicherte sich gegenseitig, dass man nichts Böses im Schilde führte – eine vertrauensbildende Maßnahme. Diese führte jedoch, solange der Zwang des Erwiderns eines Zuprostens galt, zu erheblichen Trinkmengen bei den Zechern. Ein Nachteil der Friedensgeste! Nach Jahrhunderten hat inzwischen der Zwang zum Erwidern des Zuprostens deutlich nachgelassen.
Ein wichtiger Aspekt für ein längeres Verweilen im Wirtshaus ist neben der Qualität der Speisen vor allem die des Bieres. Die richtige Temperatur, die richtige Würze, der bitterherbe Geschmack und die Perligkeit. Die Summe aller Qualitätsaspekte beim Bier wird heutzutage „Drinkability“ genannt. Für den Wirt ist es wichtig, dass die Gäste lange im Wirtshaus verweilen und viel konsumieren, aber wiederum auch nicht zu viel. Durch die mit der konsumierten Biermenge einsetzende Enthemmung ist der Effekt der steigerten Geselligkeit hochwahrscheinlich. Besonders gut funktioniert die gesellige, enthemmte Tischgesellschaft mit Zuprosten und dem sogenannten „Schmeißen“ von Runden. Seit dem Aufkommen von destillierten Alkoholika (Schnaps, Gin, Korn usw.) hat die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Auseinandersetzungen in Wirtshäusern zugenommen. Schnapstrinken ist vielerorts eher eine narkotisierende und stark enthemmende Handlung, als dass es der Geselligkeit dient.
Das berühmteste Wirtshaus Deutschlands – es gerät langsam ins Vergessen
Lange Zeit galt das „Wirtshaus an der Lahn“ in Marburg als das berühmteste in Deutschland. Das rührte gar nicht von der Qualität des Essens und Trinkens her, sondern von den teilweise recht anzüglichen Liedversen in Bezug auf die Wirtin des Gasthauses. Inzwischen ist der Ruhm des Wirtshauses an der Lahn deutlich verblasst. Die Volksweisen aus dem 19. Jahrhundert hatten die Bekanntheit des Wirtshauses begründet. Fuhrleute und Soldaten haben diesen Sehnsuchtsort besungen, Studenten haben etliche anzügliche Wirtinnenverse ergänzt. Der Lahn-Nimbus erreichte am Ende sogar das ferne China, wo auf der Halbinsel Liaodong im Nordosten 1931 ein „Wirtshaus an der Lahn“ in der Fremde deutsche Seeleute und Monteure anlockte (Bikert & Nail, 2019).
Im Jahre 1970 wurde das echte Wirtshaus an der Lahn, das lokal den Namen „Gasthof zum Schützenpfuhl“ trug, unter heftigen, aber erfolglosen Protesten aus dem In- und Ausland abgerissen. Heute steht an seinem Standort ein schmuckloses Betonhochhaus. Auch das chinesische „Wirtshaus an der Lahn“ existiert schon lange nicht mehr. So gerät das Wirtshaus an der Lahn national und international mehr und mehr ins Vergessen. Aber man kann gewiss sein, dass andere ihm in Bekanntheit und Beliebtheit nachfolgen werden. So passt der Niedergang des Wirtshauses an der Lahn gut in das historische Narrativ vom sich stets verjüngenden Gasthaus, das mittlerweile auf eine Geschichte von mehr als 4.000 Jahre zurückblicken kann. Gasthäuser kommen und gehen, die psychosoziale Funktion bleibt und erfüllt zentrale soziale Bedürfnisse nach Geselligkeit, Heimat- und Zugehörigkeitsgefühl der Menschen.
Das Wirtshaus in der Pandemie
Die Corona-Pandemie hat den Wirtshäusern schwer zugesetzt. Die Zahl der Schankwirtschaften in Deutschland hatte von 2017 bis 2019 schon von 30.100 auf 28.800 abgenommen. Eine derzeit noch gar nicht einmal genau bekannte Zahl weiterer Betriebe hat die Maßnahmen zur Pandemieabwehr wirtschaftlich nicht überlebt. Aber es werden – wie seit Jahrhunderten – neue folgen. Der Alkoholkonsum im öffentlichen Raum hat in den Jahren 2020 und 2021 im Vergleich zu 2019 nachgelassen, teilweise um mehr als ein Drittel. Der Gesamtumsatz im Gaststättengewerbe ist im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 36.5% zurückgegangen. Natürlich war dieser Rückgang coronabedingt. Während im Jahr 2019 25.9 Millionen Personen im Alter ab 14 Jahren angaben, dass sie mehrmals monatlich ausgingen, waren es im Jahr 2021 nur noch 22.5 Millionen. Dies entspricht einem Rückgang von 13%. Im privaten Bereich hat der Alkoholkonsum jedoch zugenommen. Gleichzeitig hat der Alkoholkonsum im häuslichen Umfeld zugenommen.
Das postpandemische Wirtshaus vs. der autistische Rausch
Am Ende der Pandemie ist nun ein geeigneter Zeitpunkt, auf die psychosozialen Funktionen der Wirtshäuser zu schauen und warum sie postpandemisch eine Renaissance erfahren werden. Die Hauptfunktionen bestehen in der Geselligkeit und dem Erleben von Miteinander und gegenseitiger Bezogenheit. Demgegenüber steht der Konsum zu Hause in der Familie und das Alkoholtrinken alleine. Gerade das letztgenannte gilt als bedenklich. Alkoholtrinken ohne andere Menschen ist in früheren Zeiten undenkbar gewesen und findet erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Die Selbstberauschung, wenn Menschen mit sich alleine sind, wird auch als „autistischer Rausch“ bezeichnet. Vor allem die Veränderung der alltäglichen Lebensbedingungen, die Beschleunigung des Alltags mit dem Aufkommen neuer Getränke wie Schnaps, aber auch Kaffee und Tee, und die sich wandelnden Arbeitsbedingungen und -zeiten sind dafür verantwortlich.
Während der Konsum von Alkohol in der Familie eine wichtige Funktion in der Alkoholsozialisation von Jugendlichen spielt, wird das einsame Trinken auch als narkotische oder autistische Berauschung bezeichnet. Das einsame Trinken gilt als bedenklich, weil es allein den Zweck verfolgt, sich in einen anderen Bewusstseinszustand zu bringen, oft vor dem Hintergrund übermäßigen Stresses oder psychischer Probleme. Generell sollte der Konsum von Alkohol (und anderen Drogen) nicht alleine erfolgen. Im sozialen Kontext ist der kontrollierte Konsum am ehesten lern- und praktizierbar.
Das Wirtshaus und die Sucht
Die kulturelle Institution „Wirtshaus“ hat natürlich auch einen Bezug zur Sucht. Das Wirtshaus kann der Ort allabendlichen Betrinkens darstellen. Unzählige Ehefrauen und Partnerinnen haben in den vergangenen Jahrhunderten diese Funktion des Wirtshauses in Bezug auf ihre Männer ohnmächtig miterlebt. Oft hat es sie in Armut und Verzweiflung gestürzt. In der Corona-Pandemie wurde deutlich, dass öffentliches Trinken im Vergleich zum privaten, häuslichen Trinken auch Chancen zur Suchtprävention bietet. Sie müssen nur genutzt werden!
Wenn in den Wirtshäusern mehr auf das Ausmaß des Konsums geachtet wird und vor allem in den Frühphasen der Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit Selbstkontrolle und Selbststeuerung gefördert würden und die Wege zur Hilfe kurz sind, kann das Wirtshaus sogar zu einem Ort der Suchtprävention werden. Hier kann das Konzept des „Responsible Serving“ helfen. Der Wirt und das Gaststättenpersonal wirken auf den suchtgefährdeten Gast ein, dass er sich nichts ins „Saufkoma“ trinkt und offen für Verhaltensveränderungen wird. Im Wirtshaus sind die Chancen auf Verhaltensveränderungen besser als in der häuslichen Umgebung beim autistischen Rausch. Einerseits sollen die Gäste dabei natürlich nicht kontrolliert und gegängelt werden, andererseits sollten sie frühzeitige Chancen auf hilfreiche Informationen erhalten. Während in jeder Lottoannahmestelle Materialien zur Hilfe bei Glücksspielsucht ausliegen, ist das Wirtshaus bisher unberührt von den vielfältigen Hilfen, die das Versorgungssystem bei Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit bietet.
Das Wirtshaus als Ort der Suchtprävention („responsible serving“)
Es ist auf jeden Fall offensichtlich, dass Suchtentwicklungen, die in der Öffentlichkeit beobachtbar sind, besser von Hilfeangeboten erreicht werden, als solche, die hinter verschlossenen Türen stattfinden. Und gerade, weil die Entwicklung der Sucht mit besonders viel Abwehr und Verleugnung der Realität seitens der Betroffenen zu tun hat (siehe „Sucht als Wahrnehmungs- und Denkstörung: Kognitive Abwehr und Verzerrungen bei Suchtstörungen“), sollte der öffentliche Raum eine besondere Chance für Frühinterventionen und Prävention darstellen. Wirte sehen sich bekanntermaßen oft als „Seelsorger“ ihrer Gäste. Gute Wirte wissen viel, können gut zuhören, vertrauliche Botschaften für sich behalten und in kurzen, aber prägnanten Worten das Richtige und Wichtige sagen. Es muss jedoch noch viel Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung stattfinden, bis sich Wirte, Wirtshauspersonal und Suchtfachkräfte als Verbündete sehen. Im Grunde sollten sie schon lange das gleiche Ziel in der Praxis teilen. Wirte wollen ihre Kunden nicht durch Alkoholfolgeerkrankungen verlieren, Suchtberater wollen, dass Menschen von der Sucht loskommen oder – noch besser – gar nicht erst tief hineingeraten.
Literatur:
Bickert, Hans Günther & Nail, Norbert (2019). Das Wirtshaus an der Lahn. Der legendäre „Gasthof zum Schützenpfuhl“ in Marburg und seine Gäste. Marburg: Büchner Verlag.
Dugan, Beth (2022). The Responsible Serving of Alcoholic Beverages: A Complete Staff Training Course for Bars, Restaurants, and Caterers. Ocala (Fl.): Atlantic Publishing Group Inc.
Seitz, Erwin (2021). Das Gasthaus. Ein Heimatort. Berlin: Insel Verlag.