Die Zeichen mehren sich, dass die Bedrohungslage durch das Corona-Virus (COVID-19) so schnell nicht mehr verschwinden wird. Ob es einen wirksamen Impfstoff geben wird, wie lange die nach einer Infektion oder Impfung erworbenen Resistenzen längerfristig wirken und ob sich der Virus in seiner Aggressivität auf den Menschen abschwächt, all dies ist nach wie vor unklar. Die Menschen hoffen auf Besserung der Lage und eine Rückkehr zur alten Normalität. Die vermeintlichen Gewissheiten schwinden, dass das Problem „Corona“ auf Sicht zu besiegen sein wird. Mit anderen Worten: Die Krise mit allen virologischen und zunehmend sichtbaren psychosozialen Folgen wird zum Dauerstress. Und weil Krise auf Dauer nicht geht, handelt es sich dann viel eher um eine Gesellschaft im Übergang zur Bewältigung und Veränderung. Und gemeint sind alle menschlichen Gesellschaften auf dieser Erde. Die Corona-Krise ist somit ein echtes „Kind“ der Globalisierung. Am Ende werden sich Gesellschaften anpassen müssen – erfolgreich oder erfolglos. Aber die zunehmend relevante Frage ist dann, was im Kontext einer Dauerkrise Erfolg bedeutet und was dysfunktionale Anpassungsmuster sind. Bei dieser Frage ist viel von der Suchtforschung und –therapie zu lernen. Denn Sucht stellt eine familiale und soziale Krise da, die nur schwer und mit großer Anstrengung erfolgreich zu bewältigen ist.
Inhaltsübersicht
Die Folgen der Ausgangs- und Begegnungsbeschränkungen
Die ungewohnten Ausgangs- und Begegnungsbeschränkungen seit Anfang März 2020 zeigen inzwischen ihre Spuren in der Mentalität und den Reaktionen der Bevölkerung. Die achte Welle der Erhebungen der bevölkerungsrepräsentativen Befragung der Universität Erfurt und anderer Institutionen („COSMO“) vom 20./21.04.2020 erbringt, dass die große Mehrheit der Bevölkerung diese Maßnahmen immer noch gut heißt bzw. zumindest akzeptiert, aber immerhin 13% private Feiern – auch im größeren Kreis – durchführen. Es stellt sich eine zunehmende „Lock-down-Müdigkeit“ und bei Teilen eine Reaktanz gegen den „verordneten“ Zustand ein, was nunmehr zu immer deutlicher erkennbaren Spannungen zwischen Befürwortern schneller und langsamer Lockerungen führt. Im extremen Lager finden sich Menschen, die die ganzen Maßnahmen von Anfang an vollständig abgelehnt haben. Dies tun sie aus verschiedensten Gründen, z.B. wegen grundsätzlich reaktanter Einstellungen gegen den Staat, wegen kognitiver Bewertungen anderer Art (Verschwörungstheorien) oder auf der Basis eines illusionären Unverletzbarkeitsglaubens.
Außerdem besteht zunehmend die Gefahr der Instrumentalisierung von Wissenschaftlern, die derzeit – meist zum ersten Mal in ihrer Karriere – intensive Erfahrungen mit den Funktionsmechanismen der Medienindustrie und des Politikbetriebs machen. Wer hier nicht durch und durch einen soliden Wissenschaftscodex aufweist und sich überparteilich, absolut autonom und neutral verhält, ist schnell im Feuer der Interessengruppen „verbrannt“.
Die Folgen der dauernden Kontaktbeschränkungen
Allgemein kann mit zunehmendem Sommerwetter eine abnehmende Konformität der Bevölkerung mit den ausgangs- und begegnungsbeschränkenden Maßnahmen erwartet werden, es sei denn diese werden weiter intensiv in den Massenmedien begründet und die Erfolge der Maßnahmen ausführlich unterstrichen.
Die psychosozialen Dauerfolgen der Maßnahmen sind bislang jedoch noch zu wenig in den Blick genommen und mit Gegenmaßnahmen beantwortet worden. Im ungünstigsten Fall drohen Angst der Menschen vor Menschen, Einsamkeit und Isolation, Depression und Suizid und nicht zuletzt – Hauptthema von addiction.de – Zunahme von Substanzkonsum und Suchtprobleme. Aber wird es so kommen (müssen)? Auch die Spanische Grippe, die extrem in den Jahren 1918 bis 1920 weltweit wütete, ist nach vergleichsweise kurzer Zeit wieder vom Planeten verschwunden und hat erstaunlich wenige Spuren in der kollektiven Erinnerung hinterlassen. Dies vor allem wohl deshalb, weil die Erinnerung an den 1. Weltkrieg mit seinen schrecklichen Schlachten und Menschenopfern die an Toten viel schlimmere Spanische Grippe „qualitativ“ überlagert. Menschen schaffen es nicht, ein Übermaß an Trauer und Trauma parallel zu verarbeiten.
Nach der Krise kommen Lösungen – gute oder schlechte?
Das Wesen der Krise ist neben ihrem plötzlichen Eintreten die nur vorübergehende Dauer. Jede Krise endet nach einer gewissen, nicht allzu langen Zeit. Krisen enthalten den Aspekt eines individuellen oder kollektiven Tiefpunkts genauso wie den der Chance, vor allem auf Veränderung oder Neubeginn. Daher sind Krisen für lebende Systeme sogar etwas Notwendiges, um überkommene, dysfunktionale Strukturen schneller und besser überwinden zu können. Auch hier bietet die Suchterkrankung wieder Parallelen zur Corona-Krise. Erst das Erreichen eines Tiefpunktes hilft dem Suchtkranken und seinem Familiensystem bei der meist schon lange notwendigen Veränderung. Neue Perspektiven ergeben sich dann, wenn ein Mehr des Alten nicht mehr möglich ist.
Es entstehen dann neue Strukturen oder die Systeme kehren (scheinbar) zu ihren alten Abläufen zurück. Auch die jetzige globale Pandemie wird neue Strukturen schaffen und die „alte“ Welt verändern – diesmal wahrscheinlich mit längerfristig bewussten Spuren im Erinnerungsportfolio der Menschheit. Noch nie hat die Menschheit mit einer so globalen Anstrengung versucht, die Folgen einer pandemischen Seuche zu bekämpfen. Diese Anstrengungen können eine kollektive Gedächtnisspur des Menschlichen als Ganzes auf diesem Planeten schaffen. Quertreiber wie die Präsidenten der USA, Brasiliens und mancher anderer Länder erscheinen zunehmend wie Dinosaurier aus alten Zeiten.
Social Distancing ist ein riskantes Verhalten
Nach der Krise kommt im günstigsten Fall die erfolgreiche Bewältigung und die Anpassung auf einer höheren Strukturebene, im ungünstigsten Fall Lethargie, Erschöpfung und endlose Konflikte. Auf jeden Fall geht es um den besten Weg im Umgang mit der Infektionsgefahr, ihren medizinischen und psychosozialen Folgen sowie dem Leben in einer veränderten Welt. Ob sich die Umgangsweisen zwischen fremden Menschen dauerhaft ändern nach der monatelangen Erfahrung des „social distancing“, wie junge und ältere Menschen in Zukunft mit der Situation umgehen werden, ob sie diese überhaupt für eine Bedrohung halten, all diese Fragen sind Gegenstand der Anpassung, die jetzt beginnt und in der nächsten Zeit zu neuen Gewohnheiten und Strukturen in der Gesellschaft führen wird.
Nach der Anpassung 1. Ordnung (Masken tragen, Home Office, keine körperliche Nähe zu den meisten Menschen) kommt die Anpassung 2. Ordnung, die dann das soziale Zusammenleben für lange Zeit bestimmen und regeln wird. Diese längerfristigen Anpassungen können darin bestehen, das alles zu ignorieren und sich – da man keiner Risikogruppe angehört – als Krisengewinnler zu verstehen und so zu verhalten. Dieses Verhalten würde bedeuten, die eigenen Vorteile und Chancen zu maximieren, nicht auf „social distancing“ zu achten, die ganzen Corona-bedingten Maßnahmen eher als ein Zeichen der Schwäche und der Schwachen zu verstehen und sich in egomaner Weise dagegen durchzusetzen. Die andere Seite bestünde in einer Erhöhung der sozialen und empathischen Fähigkeiten von Menschen, einem wahren Weltgewissen ür die Schwachen, Kinder, Alten und Kranken.
Senizid als Lösung und Gefahr?
Das Beharren auf der eigenen vermeintlichen Unverwundbarkeit, da man jung ist und keine Vorerkrankungen aufweist, ist eine individuell mögliche Haltung, insbesondere in westlichen Gesellschaften mit ihrer Glorifizierung des Egos, aber sie ist auch eine harte Prüfung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Solidarität mit den Alten und Schwachen. Der amerikanische Science-Fiction-Film „Soylent Green“ aus dem Jahr 1973 hatte eine Gesellschaft, die vorgeblich nur mit Senizid – wenn auch nicht wegen einer Pandemie – überleben könnte, für das Jahr 2022 vorhergesagt.
Je länger der Shutdown andauert, desto stärker werden die Konflikte und Spannungen zwischen den Interessen der mehrheitlich jungen Gesellschaft und den Ängsten und Risiken der älteren Minderheitengruppen werden. Die Inkaufnahme des Todes älterer und kranker Menschen stellt den Einstieg in den Senizid – die Tötung älterer durch Unterlassen – dar. Diese schreckliche Vorstellung ist für eine humane Gesellschaft undenkbar. Also müssen andere Lösungen her. Der bessere Schutz älterer Menschen in ihrem Lebenskontext wäre eine solche, wenn sie denn vollkommen umsetzbar ist.
Stunde der Demagogen, Problemvereinfacher und Verschwörungstheoretiker? – Nein, danke!
Auch die wirtschaftlichen Interessen aufgrund des volkswirtschaftlichen Schadens durch die Pandemiefolgen verschärfen die gesellschaftlichen Konfliktlagen. Die aufmerksamkeitsheischenden Äußerungen einzelner „Influencer“, allen voran der grüner Tübinger OB Boris Palmer, unterstreichen die explosive Spannung der Situation. Das Fundament solcher Aussagen ist in Wahrheit ethisch bodenlos.
Das Lebensrecht – auch für die Ältesten mit schweren Krankheiten und nur noch geringer Lebenserwartung – steht dem Wohlergehen der Wirtschaft und dem Wohlstand der Mehrheitsgesellschaft gegenüber. Moralische Dogmen und rigides Denken sind keine Lösung in dieser ambivalenten Spannungslage. Es geht um kreative Lösungen, die nicht weiter in, sondern aus dem moralischen Dilemma zwischen unbedingtem Lebensrecht und florierender Wirtschaft führen.
Psychologie der Krisenbewältigung
Die psychologische Forschung hat sich bislang schon intensiv mit Krisenbewältigung und Reaktionen auf Bedrohungen beschäftigt. Besonders in der klinischen Psychologie und der Gesundheitspsychologie spielen Krisenintervention und Stressbewältigung eine wichtige Rolle. Als Copingverhalten gilt die gelingende Bewältigung von kritischen Lebensereignissen, seien sie akuter oder chronischer Natur. Gelingendes Coping erfolgt auf der Basis einer Abfolge von Phasen, die im Folgenden beschrieben werden.
Phase 1: Verleugnung – Hilft kurz, schadet lange!
Zunächst wird die Bedrohung verleugnet und abgewehrt (Phase 1: Verleugnung). Dies ist bei allen pandemischen Seuchen der Vergangenheit der große Fehler gewesen, der zu tod- und verderbenbringenden Zeitverlusten führte. So auch diesmal in vielen Ländern. Dem steinzeitlichen menschlichen Denksystem ist die Antizipation des zukünftigen Geschehens auf der Basis eines unsichtbaren Verursachungsfaktors („Virus“) völlig fremd. Nur die intelligenten Entscheidungsträger und Verantwortlichen vermögen die dann notwendigen Schritte zu vollziehen. So war es auch diesmal. Die meisten Staatslenker weltweit haben schon in dieser Phase versagt.
Phase 2: Widerstand – Emotionen als Schutzmauer gegen Veränderung
Wenn Verleugnung und Ignoranz nicht mehr möglich sind, folgt die Phase 2, der Widerstand und die Auflehnung gegen die Krise und die Unmöglichkeit des Ausweichens. Hier dominieren starke Emotionen der Wut, Aggression und des Ärgers. Die starken negativen Gefühle werden auf andere gelenkt, die dann die Funktion der Sündenböcke, die die ganze Schuld tragen, zugewiesen bekommen. Erst die dann langsam einsetzende Erkenntnis der Unvermeidlichkeit der Krise führt schließlich in eine weitere Phase.
Phase 3: Lösungssuche – Endlich das Problem im Fokus
Die folgende Phase 3, Bearbeitung und Lösung, die meist zu spät einsetzt, um umfassend zu helfen, ist durch die Suche nach rationalen – bisweilen auch irrationalen – Lösungsmöglichkeiten gekennzeichnet. Nicht jede Verhaltensweise, die als eine Lösung erscheint, ist bei genauerer Betrachtung auch eine solche. Hier schlägt allzu oft die Stunde der Verschwörungstheorien, die einfache Erklärungen und Lösungen anbieten. Früher kam es an dieser Stelle zu Pogromen, Hexenverbrennungen, Teufelsaustreibungen und ähnlichen externalisierenden gewalttätigen Phänomenen, die tiefenpsychologisch als Projektionen, Verschiebungen und Aggressionsumlenkung zu verstehen sind. Heute sind dysfunktionale Lösungsmuster Ignoranz, Schuldzuweisung, Ungeduld und Gefallsucht.
Diese Phase bietet für die globale Menschheit heutzutage jedoch auch die Möglichkeit, funktionierende und angemessene Krisenbewältigungsmechanismen zu erproben und zu etablieren. Wegen der vielen Parallelen zwischen der Corona-Krisenbewältigung und der Bewältigung einer Sucht-Krise hier noch einmal ein Beispiel aus der Suchttherapie: Für die suchtbelastete Familie besteht in dieser Phase die Möglichkeit, ihre Kernprobleme anzugehen, zu lösen und vor allem neue Wege und Lösungsmechanismen auszuprobieren, die in der Regel schon lange überfällig sind.
Phase 4: Training und Gewohnheitsbildung – Nicht alles Lösungen sind die passenden!
Die abschließende Phase 4 besteht aus der Einübung und Routinisierung der neu erworbenen Lösungsmuster und Problembewältigungsmuster. Es handelt sich um das Training und die Gewohnheitsbildung in Bezug auf die in Phase 3 akquirierten Lösungen, optimalerweise in Bezug auf funktionale Lösungen. Es kann sich an dieser Stelle aber auch um dysfunktionale Lösungen handeln, z.B. um einen Aberglauben, der zufällig mit der Beendigung einer Bedrohung zusammenhängt. Dies kann zum Beispiel den vermeintlichen Erfolg des Knoblauchs bei der Vertreibung von Viren betreffen oder den russischen Volksglauben, dass Wodka Viren abtötet. Suchtpsychologisch betrachtet ist letzteres ein erlaubniserteilender Gedanke zum Schnapskonsum.
Bei der Suchtfamilie mag die funktionale Lösung der neue suchtmittelfreie Alltag unter Hinzuziehung von Suchtselbsthilfe, Paarberatung und Online-Rückfallpräventionstraining sein. Eine dysfunktionale Lösung wäre die Suchtverlagerung des Symptomträgers, z.B. von einer Alkoholsucht zu einer Glücksspielsucht.
Fazit – Nie mehr Küsschengeben. Ein Alptraum für Rheinländer und Südeuropäer
Für die Corona-Krise könnte der globale Schutz – wenn eine wirksame Impfung nicht (bald) kommen sollte – die Etablierung neuer infektionsreduzierender Lebens- und Arbeitsformen ohne anhaltende Fremdheitsgefühle sein. „Die Gesten des Händeschüttelns und Küsschengebens wurden ja schon immer überschätzt“, wäre dann der Gedanke, der die kognitiv als unangenehm erlebte Dissonanz dieser Sichtweise reduziert. Nach der Krise kommt der veränderte Alltag. Der nähe- und kontaktreduzierte neue Alltag bleibt aber dann noch lange der Alptraum für Rheinländer und Südeuropäer.