Das unwiderstehliche Verlangen nach Alkohol oder einer anderen Substanz ist eines der wichtigsten Kriterien einer Suchterkrankung. Sowohl im ICD-11 als auch im DSM-5, den beiden psychiatrischen Diagnosesystemen, taucht das Symptom des unwiderstehlichen Verlangens (englisch: craving) als eines der zentralen Kriterien für Sucht oder Abhängigkeit auf. Bei Verhaltenssüchten ist es dann entsprechend das nicht kontrollierbare Verlangen nach einer Euphorie versprechenden Handlung, wie z.B. Glücksspielen, Kaufen, Pornokonsum oder Mediennutzung. Die Unfähigkeit, dem entsprechenden Impuls zumindest für längere Zeit zu widerstehen, ist dann ein wichtiges Kriterium der Krankheit. Oft hält die Widerstandskraft gegen das Verlangen nur wenige Minuten, manchmal Stunden oder Tage an. Am Ende siegt dann stets der Impuls zum Konsum und der Suchtkranke fühlt sich einmal mehr als Versager. Das Selbstwertgefühl nimmt immer mehr ab, das Schamgefühl zu, Hoffnungslosigkeit und Resignation machen sich breit. Der Teufelskreis aus Verlangen, Konsum und Scham verfestigt sich immer mehr.
Inhaltsübersicht
Was bedeutet Verlangen?
Der Begriff „Verlangen“, der im Deutschen seit dem 9. Jahrhundert bekannt ist, steht entweder für Begierde oder Sehnsucht. Bei der Begierde geht es um einen psychischen Antrieb, um einen erlebten Mangelzustand zu beheben. Es handelt sich dabei um ein motivationales Geschehen zur Befriedigung realer oder subjektiv erlebter Defizite. Bei der Sehnsucht geht es um ein starkes, bisweilen übermäßiges Hingezogensein zu etwas oder jemandem. Die Sehnsucht bezieht sich auf ein besseres, glücklicheres Leben. Bei der Begriffsbestimmung fällt auf, dass es um Bedürfnisbefriedigung und motivationalen Ausgleich geht. Dieser bezieht sich oft auf Zuwendung, Libidobefriedigung und Nähe. Diese Sichtweise des Verlangens als eine motivierte Handlung in Richtung Bedürfnisbefriedigung passt gut zur neurobiologischen Erkenntnis, dass basale Handlungen wie Essen und Sexualität vom Dopaminsystem im Kontext des Selbstbelohnungssystems gesteuert werden. Es handelt sich dabei um dieselbe Gehirnregion, die auch mit der Entwicklung von Suchtphänomenen verantwortlich ist. Ein entstehendes Suchtverhalten unterliegt genau diesem neurobiologischen Regulierungsmechanismus.
Ausdrucksformen von Craving
Craving nach einem Suchtmittel kann sich auf verschiedenen Ebenen zeigen, die oft auch zusammen auftreten: psychisch (Denken, Phantasie), physisch (Unruhe, Getriebensein, Zittern) und emotional (Nervosität, Aggressivität, Gereiztheit). Intensives Craving kann durch gelernte Signale (siehe nächstes Kapitel) ausgelöst werden. Meist lässt die intensive psychophysiologische Phase des Cravings nach kurzer Zeit (20-30 Minuten) nach. Der Suchtkranke glaubt oft, dass er diese Zeit ohne Konsum nicht überstehen kann. Dies ist jedoch eine irrationale Denkweise, die der Realität Platz machen sollte, um die Bewältigungsfertigkeiten zu stärken.
Alles gelernt und dann codiert… vom Substanzkonsum zum Suchtgedächtnis
Das im Prozess der Suchtentstehung sich entwickelnde Craving ist ein entscheidender Motor für das sich aufbauende und dann anhaltende Suchtgeschehen. Wie entsteht es? Die Wirkung der jeweils konsumierten Substanz wird vom Gehirn und Organismus gelernt und abgespeichert. Damit ist der Mechanismus des Konstrukts „Suchtgedächtnis“ gemeint. Die beruhigenden, stressreduzierenden, geselligkeitssteigernden oder auf andere Weise angenehmen Wirkungen der konsumierten Substanz hinterlassen ihre Spuren, auch wenn das dem Konsumenten gar nicht bewusst ist. Je häufiger und intensiver konsumiert wird, desto stärker sind diese Spuren, die lerntheoretisch als positive oder negative Verstärkung bezeichnet werden.
Eine positive Verstärkung besteht in einer ausschließlich positiven Konsequenz: Euphorie, Geselligkeits- und Luststeigerung, Gefühl von Stärke und Größe, Ausdauer- und Konzentrationszunahme uvm. Die meist auch gegebene negative Verstärkung besteht darin, dass ein unangenehmer, belastender oder emotional negativer Ausgangszustand durch den Substanzkonsum zum Verschwinden gebracht wird: keine Angst oder schlechte Stimmung mehr, Sorgen vergessen, Stresserleben reduzieren, besser einschlafen uvm. Die Liste der möglichen negativen Ausgangszustände ist sehr lang, was mit anderen Worten heißt: Es gibt immer einen Grund zum Trinken und Konsumieren. Viele dieser psychischen Prozesse laufen für den Konsumenten unbewusst und automatisch ab, haben aber dennoch eine große Bedeutung für sein Verhalten.
Auf die häufige Koppelung kommt es an
Aus der häufigen Wiederholung von substanzinduzierten Verstärkungen entsteht ein Verlangen. Dieses ist wiederum an die Bedingungen der Situation, in der konsumiert wird, gekoppelt. Die häufige Koppelung von Situation mit Konsum macht aus den einzelnen Bedingungen der Situation langfristig Auslösereize für Verlangen und Konsum. Der Anblick oder Geruch der Substanz, die Umgebungsbedingungen (Geräusche, Mitmenschen, Geruch) und viele andere äußere und innere Aspekte wie Entzugssymptome, innere Stimmung, emotionale Verfassung werden als Signale für die Reaktion (Konsum) mitgelernt. Es handelt sich um das Prinzip des Klassischen Konditionierens. So wirken verschiedene psychologische Lernmechanismen Hand in Hand bei der Entstehung häufigen oder kontinuierlichen Konsums. All dies sind entscheidende Vorstufen zur Entwicklung einer Suchterkrankung.
Das besondere Dilemma des hier beschriebenen Lernens ist, dass im Entstehungsprozess die Wirkungen der Substanzen und die Umstände des Konsums eine große und prägende Rolle spielen, dies jedoch nicht bewusst und kritisch genug wahrgenommen wird. Die Sucht entsteht meist schleichend und wird erst in der selbstkritischen, durch fremdmotivationale Impulse (Partnerin, Vorgesetzte, Führerscheinverlust, Erkrankung usw.) in Gang gesetzten Selbstreflektion erkannt (vgl. Die 8F der Suchttherapie – Veränderung beginnt mit F!). Das Verlangen, welches die Suchterkrankung miterzeugt und später aufrechterhält, ist psychologisch das Streben nach der Wiederholung der unter dem Konsum erlebten inneren Zustände und physisch die nach der Erlangung angenehmer Körperzustände. Subjektiv kann dies als Sehnsucht nach den angenehmen Effekten des Substanzkonsums erlebt werden. Wenn sich Entzugserscheinungen entwickelt haben, manifestiert sich der physische Faktor des Verlangens, das nun unwiderstehlich ist, in der Befreiung von diesen höchst aversiven Zuständen.
Psychisch steigert sich die Sehnsucht nach dem Nachlassen der unangenehmen Entzugserscheinungen ebenfalls so sehr, dass das Verlangen als unwiderstehlich erlebt wird. Die Wiederherstellung der unter dem Suchtmittel erlebten Zustände und die Vermeidung von Entzugserscheinungen sind die primären Motive zum Substanzkonsum bei Suchtkranken. Dieser wird unter Craving-Zuständen zwanghaft. Psychische und physische Prozesse gehen beim Verlangen Hand in Hand. Dennoch wird oft zwischen psychischer und physischer Abhängigkeit unterschieden, was dem Wesen der Sucht und dem Erleben des Suchtkranken jedoch zuwiderläuft. Das Verlangen ist ein komplexes Geschehen, das aus psychischen und physischen Faktoren besteht. Man sollte lediglich von einem Mehr an psychischer oder physischer Symptomatik sprechen.
Das psychische Geschehen beim Craving
Das unwiderstehliche Verlangen nach dem Suchtmittel gilt als wichtiges Zeichen der psychischen Abhängigkeit. Die Nicht-Kontrollierbarkeit des Verlangens ist ein Symptom des Verlustes der Selbstkontrolle und damit ein wichtiges Merkmal der Suchterkrankung. Das Verlangen bezieht sich nur vordergründig auf das Suchtmittel. In einem tieferen Sinne geht es um die erwünschte und gelernte Substanzwirkung. Diese kann sedierend oder euphorisierend sein – und damit beruhigend, anregend oder bei Mischkonsum auch beides. Beim menschlichen Lernen werden die Umstände, die zur angenehmen Substanzwirkung führen, intensiv mitgelernt (siehe „Signallernen“). So werden Sehen, Geruch, Geräusche, aber Gefühle und Stimmungen beim Konsum mitgelernt und entsprechend codiert. Der Anblick einer Injektionsspritze kann nach mehrmaliger Anwendung zur Drogeninjektion beim Drogenkonsumenten bereits die Drogenwirkung – wenn auch in abgeschwächter Form – auslösen und damit vorwegnehmen. Sie wird mit einer Erfahrung besetzt – das Prinzip des Signalcharakters in der klassischen Konditionierung.
Bei Suchtentstehung, Craving und Rückfälligkeit spielen psychologische Faktoren eine große Rolle.
Die Bedingungen der Konsumsituation erhalten einen besonderen Signalcharakter
Die einzelnen Aspekte häufig erlebter Konsumsituationen erhalten einen Hinweischarakter für die jeweiligen Substanzen – sie werden zu Signalen für den kurz danach kommenden Konsum. Deshalb ist es in der Therapie der Sucht besonders wichtig, diese gelernten Zusammenhänge zu entkoppeln: Orte des Konsums aufzusuchen, ohne zu konsumieren; mit Personen zu interagieren, die konsumieren, ohne selbst zu konsumieren; sinnliche Wahrnehmungen (wie Geruch, visuelle Objekte und Geräusche, die mit dem Konsum zusammenhingen) ohne eigenen Konsum zu bestehen. Es entsteht eine besondere Sensitivierung für die jeweiligen Suchtmittel und situativen Merkmale, ein Prozess der Aufmerksamkeitslenkung, der Wahrnehmung und Emotionen umfasst. Flaschen, Gläser, Zigaretten, Pulver, Kristalle, Blüten oder wie auch immer das Suchtmittel ausschaut, erscheinen dem süchtigen Betrachter größer, wodurch auch die zugeschriebene Bedeutung wächst und sich intensiviert. Oft berichten Suchtkranke von regelrechten Craving-Attacken, wenn sie visuellen oder andersartigen Auslösereizen exponiert sind. Dabei sind die Verlangensimpulse so stark, dass jegliche Gegenwehr in der Regel zusammenbricht.
Verlangen und Gier
Im Verlauf der Suchtentwicklung kann sich ein besonders starkes Verlangen nach einer Substanz entwickeln, das dann immer wieder seinen Durchbruch sucht und als Zwangsverhalten erlebt wird. „Ich brauche sofort unbedingt etwas“, ist ein passendes inneres Erleben, vielleicht eher gespürt als im Selbstgespräch verbalisiert.
Die Dynamik des unwiderstehlichen Verlangens kann sehr stark und intensiv sein. Schriftsteller wie Dostojewski („der Spieler“) oder Jack London („der Trinker“) haben das autobiographisch auf eindringliche Weise geschildert. Wenn von Suchtdruck die Rede ist, handelt es sich um das gespürte Verlangen, dem sich der Suchtkranke in der Regel nicht lange widersetzen kann. Deshalb wird dieses Verlangen am Ende als „unwiderstehlich“ erlebt. Im Craving äußert sich die subjektive Unfreiheit und Gefangenschaft des Suchtkranken am stärksten. „Addiction“, der englische Begriff für Sucht, bedeutet dementsprechend auch nichts anderes als „Sklaverei“. Der einzelne Mensch hat nicht mehr die Kontrolle über seine Entscheidungen und Handlungen, sondern die Suchterkrankung mit dem jeweiligen Suchtmittel steuern und kontrollieren ihn.
Die Befriedigung des unbändigen Verlangens nach einer Substanz oder Verhaltensweise wird oft als Gier verstanden. Dieses unbedingte „Haben-Wollen“ – oder im Innenleben des Suchtkranken „Haben-Müssen“ – führt dann zu impulsiven und ebenso exzessiven Reaktionen. Dem entspricht auch das schnelle und unkontrollierte Konsumieren, gerade wenn es darum geht Entzugserscheinungen zu bekämpfen. Das Stillen der Gier ist dann als kompensatorisches Verhalten zur Linderung der Entzugsphänomene zu verstehen.
Außenstehende können die ungeheure Wucht des Getriebenseins, die sich im Hintergrund abspielt, selten nachvollziehen. Deshalb wurde schon früh das Konzept der Gier, im Übrigen eine der sieben Todsünden in der christlichen Überlieferung, erfunden. Die Gier als Todsünde mutierte zur Exzessivität der Moderne. Das exzessive Konsumieren wurde in der modernen Warenwelt zur Anforderung und verlor seine Anrüchigkeit. Auch diese begünstigte die Ausbreitung der Suchtstörungen in den letzten 150 Jahren. Es findet sich natürlich auch gieriges Verhalten ohne Sucht im Hintergrund. Gier kann insofern Ausdruck von Persönlichkeit und Einstellung sein.
Dem unwiderstehlichen Verlangen widerstehen
Aus den vorausgehenden Ausführungen ist deutlich geworden, dass das sogenannte unwiderstehliche Verlangen ein Symptom der Suchterkrankung darstellt. Die Unwiderstehlichkeit wurde in einer längeren Lerngeschichte erworben und sollte wieder verlernt werden. Wie dies konkret geschehen kann, wird im Folgenden ausgeführt. Die vorhandenen Erfahrungen müssen dabei mit neuen, inkompatiblen Bewältigungserfolgen überschrieben werden.
5 Tipps zum Umgang mit Craving
Ohne Bewältigung von Craving ist eine dauerhafte Bewältigung der Sucht undenkbar. Deshalb gehört zu jeder Suchttherapie neben Einsichten über die Entstehung der Sucht ein alltagsnahes Training im Umgang mit Craving-Situationen. Dieses kann sich auf eine Verringerung des Cravings an sich als auch auf den verbesserten Umgang mit den Verlangenssituationen beziehen.
1. Das unwiderstehliche Verlangen im Craving lässt sich erfolgreich behandeln.
Achte anfangs darauf, dass Du Dich vor riskanten Situationen, in denen Craving auftreten kann, weitestgehend schützt. Darüber hinaus solltest Du die Bewältigung der dennoch auftretenden Situationen einüben (siehe Pkt. 2).
2. Je häufiger Du im Alltag Craving erfolgreich bewältigst, desto besser ist dies für Deinen dauerhaften Erfolg im Umgang mit der Suchterkrankung.
Wenn Du es geschafft hast, spüre Deinen Erfolg! Die Craving-Attacken werden auf Dauer nachlassen. Aber sie können immer noch auftreten, auch in Zusammenhang mit Träumen und unbewussten Konsummotiven.
3. Du kannst Craving durch aktives Handeln besser als durch Passivität bewältigen.
Wenn Du Verlangen verspürst, oft anfangs ein diffuses Gefühl des Unwohlseins, gehe aktiv in Handlungen: Ablenkung, soziale Kontakte, ritualisierte alternative Tätigkeiten u.ä.
4. Sorge für Ausgeglichenheit und innere Balance!
Dies gilt besonders für Deine Gefühlslagen. Unausgeglichene Stimmungslagen, die über längere Zeit anhalten, können den Wunsch nach neuerlichem Substanzkonsum triggern und so zu Craving führen.
5. Teile Deine Erfahrungen in der Bewältigung des Cravings mit anderen!
Hierfür kommen die Menschen in der Suchtselbsthilfegruppe, die Partnerin bzw. der Partner, Freunde, Suchtberater, Psychotherapeuten oder anonyme Berater (Telefonseelsorge oder Suchtnotruf) in Frage. Das Gute daran ist, dass Du nicht alles mit Dir alleine ausmachen musst. Erfolge, aber auch Probleme, zu teilen ist ein wichtiger Baustein, um eine dauerhafte Bewältigung der Sucht zu erreichen. Aber auch die Tipps der anderen können helfen und die nötige Selbstwirksamkeit stärken. Misserfolge in der Bewältigung von Cravingsituationen sollten Ansporn zu intensivem Lernen zur Bewältigung sein und brauchen nicht zu Resignation und Selbstaufgabe zu führen. Es ist entscheidend, einmal mehr aufzustehen als hinzufallen.
Tipps zum Umgang mit Rückfallsituationen (davor bzw. danach) finden sich hier.