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Inhaltsübersicht
Kommunale Suchthilfe – Einführung und Überblick
Suchthilfe kommunal sichtbar machen – ein gutes Ziel
Das deutsche Suchthilfesystem gilt als vorbildlich und international führend hinsichtlich Angebotsbreite und Effizienz. Anfang November 2020 feierte die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) zusammen mit anderen Verbänden und unter der Schirmherrschaft der Bundesdrogenbeauftragten, Frau Daniela Ludwig (MdB), die ambulante Suchtberatung unter dem Titel „Suchtberatung – kommunal wertvoll!“.
Dazu hieß es auf der DHS-Website: „Ziel war es, Suchtberatungsstellen und Politik in den Kommunen miteinander in einen Dialog zu bringen. Dabei sollte vor Ort auf die Dringlichkeit der (Weiter-)Finanzierung und die Zukunftssicherung der Suchtberatungsstellen aufmerksam gemacht werden. Suchtberatung braucht eine stabile, kostendeckende und verlässliche Finanzierung! Sie ist systemrelevant und trägt nachweislich dazu bei, die Chronifizierung und Folgekosten von Abhängigkeitserkrankungen zu verringern!“ Das Engagement der Politik in Bund, Ländern und Kommunen für die Suchthilfe zu verstärken, ist ein gutes Ziel. Die Suchthilfe selbst sollte sich dabei fragen, ob sie evidenzbasiert und zukunftsfähig aufgestellt ist. Darum geht es in diesem Beitrag: Die Software der Hardware „ambulante Suchtberatung“.
Ist die kommunale Suchthilfe vorzeigbar?
Es ist von hoher Bedeutung, öffentlich auf die Angebote der Suchthilfe aufmerksam zu machen und in einen Dialog mit der Politik und der Bürgergesellschaft zu treten. Die Suchthilfe leidet meist unter einem Negativimage und muss eine Menge zum Abbau von Vorurteilen und Diskriminierung tun. Das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ von Prof. Georg Schomerus (Greifswald) und anderen im Jahr 2017 () war dafür ein wichtiger Meilenstein. Bei der jetzt initiierten Kampagne „Suchthilfe – kommunal wertvoll!“ fehlt jedoch neben der Klage über die Finanzierungsprobleme durch die Kommunen ein kritischer, selbstevaluativer Blick auf das System der ambulanten Suchthilfe. Ist die ambulante Suchthilfe in ihrer derzeitigen Verfassung wirksam und auf der Höhe der wissenschaftlichen Aktualität – und damit vorzeigbar? Auch und gerade diese Frage muss erlaubt sein und nachhaltig dringlich gestellt werden.
Die derzeitige Kampagne unter dem Motto „Suchthilfe – kommunal wertvoll!“mutet eher wie der Versuch an, sich das Hilfesystem ohne gründliche Evaluation und Überprüfung schön zu reden. Ich werde in diesem Beitrag aufzeigen, dass die dafür nötigen Hausaufgaben noch nicht adäquat oder gar umfassend erledigt sind. Die Aussagen, vor allem in dem auch auf der DHS-Website propagierten Papier „Suchtberatung wirkt!“ (xitGmbH, Nürnberg, und Sozialteam Sachsen gGmbH), entsprechen eher einer konfessionellen, aber nicht professionellen Grundhaltung (vgl. Grawe et al., 2001).
Profession statt Konfession – Entwicklungsaufgabe der ambulanten Suchthilfe
Klaus Grawe, früh verstorbener Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapieforschung an der Universität Bern, prägte in seiner bahnbrechenden Untersuchung zur Wirksamkeitsanalyse der Psychotherapie die Forderung, dass für psychologische oder medizinische Interventionen – wie Psychotherapie – Ende der 1990-er Jahre den Anspruch, dass hinsichtlich Effektivität nicht Glaubensbekenntnisse, sondern empirische ermittelte Effektivität zählt. Dies ist gründsätzlich auch auf Beratungsleistungen übertragbar. In einer früheren Betrachtung fand bereits eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zustand der Suchthilfe in Deutschland insgesamt statt und es wurden Entwicklungsaufgaben aufgezeigt, die auch die empirische Evidenzbasierung umfassen. Dies entspricht guter wissenschaftlicher Praxis und soll zu einer fundierten Suchthilfeforschung in Deutschland beitragen.
Im Folgenden wird ganz auf die ambulante Suchthilfe in Deutschland fokussiert, besonders auf das Angebot der Suchtberatung. Über die inhaltlich und fachlich notwendigen Aufgaben und Anforderungen an die Professionalisierung der ambulanten Suchthilfe werde ich jenseits aller Idealisierungen, Wunschvorstellungen und Gesinnungsverlautbarungen berichten. Eine kritische Selbst- und Fremdevaluation des Systems ist im Sinne einer Reflektion der Zukunftsaufgaben für die Weiterentwicklung des Systems geradezu zwingend nötig. Es geht dabei nicht um Nestbeschmutzung oder destruktive Kritik. Ich halte das System der ambulanten Suchthilfe in Deutschland für hochgradig wichtig und relevant (und wünsche mir seine konsequente Evaluation), aber gleichzeitig unbedingt weiterentwicklungsfähig und –bedürftig.
Es langt nicht, sich der eigenen Qualität im subjektiven Glauben eines hohen Standards zu versichern, ohne dafür empirische Belege vorweisen zu können. Das ambulante Suchthilfesystem muss sich einer kritischen Evaluation unterziehen, Stärken (sicher sind eine Menge vorhanden) und Schwächen (auch solche sind vorhanden) analysieren, um sich zukunftsfest und –sicher aufzustellen. Das stationäre Suchthilfesystem (vor allem der Bereich der Entwöhnungskliniken) ist hier schon seit vielen Jahren im Vorsprung und hat die eigenen Arbeitsresultate kontinuierlich evaluiert. Der ambulante Bereich kann in dieser Hinsicht viel vom stationären Bereich lernen, auch wenn die jeweiligen Arbeitsweisen, Strukturen und Prozesse nicht direkt übertragbar sind. Was übertragen werden sollte, ist der Anspruch zur Evaluation und kritischen Selbstanalyse mit dem Ziel der Optimierung und Weiterentwicklung dieses Hilfesektors.
Geschichte und Hintergrund: Entwicklung des ambulanten Suchthilfesystems
Die erste Suchtberatungsstelle wurde schon am Ende des 19. Jahrhunderts in Mecklenburg in der Trägerschaft der Landespolizei gegründet. Es ging mehr um Disziplinierung, Korrektur und Bewährung als um Beratung im heutigen Sinne. Leider verlieren sich die Spuren dieser Institution in den Wirren des 1. Weltkriegs und der Zeit danach. In der Folge des Psychiatrie-Enquete von 1975 und der ersten „Drogenwelle“ in der 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich – zunächst langsam – ein System ambulanter Beratungsdienste für Menschen mit Suchtproblemen.
Diese waren anfangs oft noch nach Sucht- und Substanzformen getrennt in Drogen- und Suchtberatungsstellen. Die – vor allem in ländlichen Regionen – dysfunktionale Trennung in alkohol- und drogenspezifische Dienste hat sich erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufgelöst. Nach der deutschen Wende, in deren Folge durch die Entwicklung in den neuen Bundesländern schnell klar wurde, dass gerade kombinierte ambulante Dienste eine adäquate Versorgung für alle Suchtprobleme leisten können, wurde dieses Modell auch allmählich im Westen bei den dort traditionell zweigeteilten Diensten übernommen.
Die ambulante Suchthilfe ist in Deutschland im internationalen Vergleich sehr gut ausgebaut. Etwa 1.300 Suchtberatungsstellen bundesweit beraten und behandeln jährlich etwas mehr als 400.000 suchtkranke und suchtgefährdete Menschen und deren Angehörige. Dennoch ist sie in der Öffentlichkeit kaum sichtbar. Dies liegt nicht nur am schlechten Image des Suchtbegriffs und der starken Abwehr und Tabuisierung des Themas, sondern auch an der Vernachlässigung der Öffentlichkeitsarbeit. Auch ist – gut 40 Jahre nach Ausbau der ambulanten Suchthilfe – deren Effektivität und Effizienz immer noch nicht ausreichend gesichert, obwohl es viele positive Hinweise darauf gibt. Der Beitrag widmet sich den Entwicklungs- und Innovationspotentialen in diesem Bereich.
Kommunale Suchtberatung ist (immer noch) freiwillige Leistung
Suchtberatung wird von den Bundesländern und den Kommunen überwiegend als freiwillige Leistung, insbesondere der Daseinsvorsorge, bezuschusst. Die jeweils gezahlten Beträge seitens der Kommunen variieren erheblich, was zu unterschiedlichen Personalausstattungen der ambulanten Dienste führt. Wohlhabende oder suchtsensible Kommunen leisten sich meist eine besser ausgestattete ambulante Suchthilfe. Die kommunale Daseinsvorsorge ist jedoch verfassungsrechtlich im Sozialstaatsprinzip im Art. 20, Abs. 1 Grundgesetz, verankert. Ansprüche auf kommunale Suchthilfen lassen sich aber auch aus dem SGB XII (Sozialrecht) § 11, Abs. 2, im Sinne einer Beratung und Unterstützung zur Überwindung einer Notlage herleiten. Außerdem sind kommunale Suchthilfen auch als Leistungen der Förderung der Teilhabe anzusehen und entsprechen zu fördern, z.B. nach SGB IX, § 106. Insgesamt ist es ein berechtigter Anspruch, dass die kommunalen Suchthilfen vergleichbar gut ausgestattet sein sollten. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) fordert einen Personalschlüssel von einer Fachkraft pro 10.000 Einwohnern als Standard der Grundversorgung mit kommunalen Suchthilfen.
Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände als Träger von mehr als 85% der Suchtberatungsstellen klagen seit Jahren über zu niedrige und auch unterschiedlich auskömmliche finanzielle Zuschüsse. Hier sind neue, gesicherte Finanzierungsformen vor dem Hintergrund regelhaft evaluierter Leistungen dringend notwendig.
Heute herrschen fast überall integrierte ambulante Dienste vor, bei denen Hilfen für Alkohol- und Drogenabhängige angeboten werden. Oft kommen niedrigschwellige Hilfen, psychosoziale Betreuung für Substituierte, Hilfen für Angehörige und suchtpräventive Angebote dazu. Inzwischen sind vielerorts noch Angebote für Glücksspielsüchtige und neuerdings auch für Mediensüchtige hinzugekommen. Lediglich in den Ballungszentren und Großstädten bleiben teilweise noch die hochspezialisierten Einzeldienste bestehen.
Stärken und Schwächen der ambulanten Suchtberatung
Breitgefächerte Angebote und Methoden
Die ambulante Suchtberatung weist inhaltlich und methodisch ein breites Angebotsspektrum auf. Dies umfasst neben niedrigschwelligen Hilfen (meist aber nur für Drogenabhängige), Vermittlung in stationäre Therapie, Suchtberatung i.e.S. und Suchtprävention. Hinzu kommen spezialisierte Angebote in Kooperation mit anderen Diensten, wie Schuldnerberatung, Drogenberatung im JVA-Kontext, sozialpsychiatrische Hilfen für chronisch psychisch Kranke und Suchthilfen für Wohnungslose. Es können auch sehr unterschiedliche Settings zur Beratung vorhanden sein: Vom klassischen Einzelsetting (z.B. Beratung, Psychoedukation, Vermittlung, Psychosoziale Betreuung Substituierter) über Paarsetting (Paarberatung) und das Gruppensetting (z.B. Motivations-oder Angehörigengruppen) und aufsuchende Arbeitsformen (z.B. Streetwork) bis hin zu niedrigschwelligen Hilfen und Kontaktangeboten (z.B. Kontaktcafé, Konsumräume, Angebote im Rahmen von Schadensreduzierung). Dringend sollten routinemäßige Online-Angebote als Setting der ambulanten Suchtberatung entwickelt (einige wenige sind schon vorhanden) und in die Fläche der Regelangebote transferiert werden. Diese können vor allem Psychoedukation, Grundberatung und Rückfallprävention umfassen.
Stärkung der ambulanten Hilfen noch nicht stark genug
Ein besonders wichtiger – aber noch nicht umfassend genug umgesetzter -Trend in der Entwicklung der Suchthilfe in Deutschland ist die Konzentration auf primär ambulante Hilfen. Knapp zwei Drittel aller medizinischen Suchtrehabilitationspatienten (Entwöhnungsbehandlungen) kommen durch Vermittlung einer Suchtberatungsstelle.
Generell haben ambulante Behandlungen den Vorteil der Lebenswelt- und Alltagsnähe und lassen sich auch gut mit kurzfristigen stationären Angeboten, z.B. einem qualifizierten Entzug, kombinieren. Suchthilfen sollten so wenig wie möglich stationär durchgeführt und so oft wie möglich ambulant angeboten werden. Dafür sprechen nicht nur Kostengründe, sondern auch die Vorteile einer lebenswelt- und familiennahen Behandlung. Ambulante Hilfen bieten neben Kostenvorteilen die Chance, alltagsnahe Behandlung mit Transfer- und Trainingsbezügen anzubieten, die sich für Suchtkranke günstig auswirken, Rückfälle vermeiden oder zeitnah auffangen und Stabilisierungen fördern können. Die Qualität und Effizienz der Arbeit der Suchtberatungsstellen sollte weiter kontinuierlich durch adäquate Finanzierung, aber auch Evaluation, Begleitforschung, Qualifikation und Weiterbildung gesteigert werden. Auf die letztgenannten Aspekte wird im Folgenden fokussiert. Doch zunächst wird der Frage nachgegangen, wie sehr die Suchtberatungsstellen sich der digitalen Modernisierung inzwischen geöffnet haben.
Online-Probleme im ambulanten Sektor der Suchthilfe
Der Hürdenlauf zur Hilfe beginnt für potentiell Hilfesuchende bereits oft, wenn sie eine Suchtberatungsstelle online suchen. Das Auffinden gestaltet sich bisweilen schwierig, weil sich die suchtspezifischen Hilfen bei den Wohlfahrtsverbänden (Caritas, Diakonie) im großen Angebot der verschiedensten sozialen Dienstleistungen befinden und nicht einfach herauszufiltern sind. Ist das Auffinden einer einschlägigen Website für Suchtberatung direkt oder auf Umwegen gelungen, sind viele Webseiten hinsichtlich der optischen und inhaltlichen Gestaltung für Hilfesuchende nicht einladend, wenig motivierend oder zu verwirrend mit Informationen vollgestopft.
Es mangelt bisweilen an Verständlichkeit, Transparenz, Aktualität, leichter Sprache, motivierenden Angeboten bis hin zu nicht aktueller Fachlichkeit. Demgegenüber stehen vorbildlich aufgebaute und strukturierte Webseiten einzelner Beratungsstellen. Schnell wird damit deutlich, dass im Bereich der Online-Zugänge und der Online-Hilfen einheitliche Qualitäts- und Gestaltungskriterien fehlen. Für potentielle Klienten ist es zentral, einen einfachen, niedrigschwelligen und motivierenden Zugang zur Suchtberatung zu finden. Auf jeden Fall ist es jedoch für Hilfesuchende unerlässlich, schnell und direkt ein Beratungsangebot online finden zu können, ohne langschwierige Schleifen durch die vielfältigen Angebote und Veröffentlichungen der Anbieter drehen zu müssen. Gerade bei der im Anfangsstadium einer Hilfesuche meist fragilen Motivation des Suchtkranken ist ein schnelles Auffinden einschlägiger Hilfen unabdingbar.
Genauso wichtig sind zunehmend digitalisierte und hybride Beratungsangebote als solche – und dies nicht nur wegen der Corona-Epidemie. So ist z.B. schon lange bekannt, dass hilfebedürftige und –suchende Klienten im ländlichen Raum aufgrund infrastruktureller Probleme systematisch unterversorgt oder benachteiligt sind. Hier bieten Online-Beratungsformen schon lange eine Alternative, die bis zur Corona-Krise leider kaum genutzt wurden. Die Essener Erklärung zur digitalen Transformation in der Suchthilfe vom März 2020 hat – unabhängig von der Corona-Krise – die Bedarfe und Defizite aufgezeigt.
Die entscheidenden Kriterien der Online-Qualität suchtbezogener Hilfen sind zusammenfassend: Leichte Auffindbarkeit, optische und inhaltliche Qualität der Website, Konnektivität der Website, motivierende Sprache. Die Suchtberatungsstellen müssen sich bundesweit endlich auf den Weg zu einer umfassenden, einfach zu erreichenden und zu bedienenden Online-Präsenz machen.
Qualitätsprobleme der ambulanten Suchthilfe müssen offen und kritisch diskutiert werden
Wie auch in anderen Bereichen der gesundheitlichen und sozialen Versorgung müssen die Ressourcen und Defizite der ambulanten Suchthilfe offen und kritisch dargestellt und diskutiert werden, um zu Weiterentwicklungen zu kommen. Dies geschieht im Folgenden ansatzweise anhand ausgewählter Kritikpunkte:
(1) Die digitale Qualität vieler Suchtberatungsstellen lässt zu wünschen übrig.
Wegen der Tabuisierung und Verdrängung des Suchtthemas im öffentlichen Bewusstsein und auch in weiten Teilen der Medizin, Psychotherapie und Sozialen Arbeit ist es von entscheidender Bedeutung, die Alltagspräsenz des Themas „Sucht“ in Anbetracht der hohen Fallzahlen für Suchtstörungen in Deutschland zu erhöhen. Neben öffentlichkeitswirksamen Aktionen in den Straßen, Schulen und Betrieben sind heutzutage hierfür das Internet und die sozialen Netzwerke die geeignetsten Orte. Eine unsystematische Betrachtung der Internetauftritte der meisten Suchtberatungsstellen zeigt, dass Qualität, Zielgruppenorientierung und Attraktivität deutlich gesteigert werden muss. Dieses Anliegen soll mit diesem Blog deutlich gemacht werden. Wir haben hierfür bereits im Rahmen der externen Evaluation des Gesamtangebots mehrerer Suchtberatungsstellen Vorarbeiten geleistet. Auf der Basis dieser Vorerfahrungen bieten wir Hilfen und Unterstützung bei der Weiterentwicklung der Internetpräsenzen von Suchtberatungsstellen unter den genannten Aspekten. Wenn Sie als Institution oder Fachkräfte Interesse daran haben, nehmen Sie mit uns Kontakt auf.
(2) Der berufliche Nachwuchs ist nicht hinreichend qualifiziert für die komplexen Anforderungen der Suchtberatung.
Die Hochschulcurricula „Soziale Arbeit“ haben immer weniger berufspraktische Relevanz für die Suchthilfe. Durch die Reform der Hochschulstudiengänge im Rahmen des Bologna-Prozesses ergab sich eine Verkürzung der Ausbildung bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss (Bachelor). Dadurch ist die Eingangsqualifikation der Fachkräfte schmäler als zuvor.
Nachteilig ist außerdem, dass sich viele Fachkräfte der Sozialen Arbeit inzwischen scharf von jeglicher therapeutischer Tätigkeit abgrenzen. Diese Abgrenzung wurde durch jahrelange Indoktrination von therapiekritischen bis -feindlichen Professoren und berufsständischen Funktionären der Sozialen Arbeit gefördert. Die Abwendung von therapeutischen Tätigkeiten in der Ausbildung der Sozialen Arbeit ist eher ideologisch als inhaltlich begründet und strahlt auch auf andere Interventionsbereiche, vor allem den Sektor „Beratung“, aus. Inzwischen gingen den Fachkräften der Sozialen Arbeit wichtige Arbeitsfelder im Bereich der therapeutischen Tätigkeiten verloren, zuletzt der Zugang zur Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie (KJP) durch das Psychotherapeutengesetz von 2019. Nunmehr verbleibt nur der Bereich der Suchttherapie. Als langjährig tätiger Suchtforscher und -therapeut wünsche ich mir ausdrücklich, dass dieses Tätigkeitfeld für die Fachkräfte der Sozialen Arbeit erhalten bleibt. Die Tätigkeitsbereiche Suchttherapie und Suchtberatung sollten unbedingt beide von Fachkräften der Sozialen Arbeit als eine der wichtigen Berufsgruppen im Bereich der Suchthilfe angeboten werden.
Die „Suchttherapie“ ist inzwischen fast ein Fremdkörper in den Ausbildungscurricula der Sozialen Arbeit. Gleichzeitig hat sich eine Dominanz gesellschafts- und identitätspolitischer Themen in den Studiengangscurricula der Sozialen Arbeit entwickelt. Diese haben für die Praxis der Suchthilfe nur sehr begrenzte Relevanz, wenn überhaupt. Teilweise dürften die oft ideologisch vermittelten Lehrinhalte kontraproduktiv für ein psychologisch-empathisches Arbeiten mit Suchtkranken sein. Zumindest werden konkrete Gesprächsmethoden und Beratungstechniken im Bachelor-Studium an deutschen Hochschulen immer weniger vermittelt. Ein deutliches Manko der Ausbildung für die Berufspraxis! Hinzu kommt, dass die international in vielen Ländern durchaus breit aufgestellte Klinische Sozialarbeit (vor allem USA, Kanada) in Deutschland immer noch eher ein Randdasein in der Sozialen Arbeit führt.
Probleme der ambulanten Suchthilfe
Die ambulante Suchthilfe in Deutschland hat ihr Potential bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Dafür ist eine ganze Reihe von Problemen verantwortlich, die sich nicht nur durch die bisweilen schlechte kommunale Finanzierung ergeben. Die Mehrzahl der Probleme wäre unter günstigen Umständen lösbar. Dafür muss sich die ambulante Suchthilfe kritisch selbstreflektieren, evaluieren und konzeptionell weiterentwickeln, und zwar mit Hilfe aller Akteure, auch der zuständigen Leistungsträger aus Kommunen, Renten- und Krankenversicherung und Sozial- und Eingliederungshilfe.
Die Basis eines solchen Optimierungs- und Weiterentwicklungsprozesses wäre eine systematische Evidenzbasierung und Konzeptreflektion. Die besonderen Stärken der ambulanten Suchthilfe könnten in den Bereichen Frühintervention, niedrigschwellige und aufsuchende Hilfen, vernetzte Hilfen, Case Management, Familienbehandlung, Suchtspezifität und –kompetenz liegen. Daraus ließe sich ein evidenzbasiertes, an Effizienz und Selbstoptimierung orientiertes Behandlungs- und Versorgungssystem entwickeln. Dass sich die ambulante Suchthilfe trotz mehr als 40-jähriger Geschichte nicht auf dem Weg zu einem selbstoptimierenden, evidenzbasierten Hilfe- und Versorgungssystem befindet, hat viele Ursachen, die auch in der forschungs- und empirieaversiven Mentalität der Sozialen Arbeit – insbesondere wenn es quantitative Methoden betrifft – begründet sind. Ausführliche Ausführungen zu diesen Hintergründen finden sich im Folgenden und in meinem Beitrag zu „Suchthilfe in Deutschland“.
Strukturelle und latente Defizite
Im ambulanten Suchthilfesysteme sind strukturelle und latente Defizite zu finden, die größtenteils mit den Ursprungsbedingungen, den Finanzierungsstrukturen und schließlich den Qualifizierungs- und Weiterbildungsstandards des Systems zu tun haben. Bemerkenswert ist das weitgehende Fehlen von praxisnaher Wissenschafts- und Forschungsorientierung. Die Idee, dass der praktisch tätige Suchtberater mit einem Abschluss im Bereich der Sozialen Arbeit auch ein angewandt Forschender ist, erscheint vielen Vertretern im System fremdartig und praxisfern. Die ambulante Suchthilfe funktioniert eher wie ein Dienstleistungsbetrieb außerhalb des Gesundheitswesens, dessen Angebote unüberprüft per se als wirksam und effektiv gelten müssen. Dabei ist nicht zu verkennen, dass manche Akteure der ambulanten Suchthilfe an der empirisch fundierten Weiterentwicklung und Evidenzbasierung des Systems arbeiten, dass dies aber – selbst nach mehr als 40 Jahren Existenz – immer noch den Charakter einzelner Leuchttürme und nicht eines flächendeckenden Regelsystems aufweist.
Latente Mit-Stigmatisierung
Viele Fachkräfte in der Suchthilfe berichten von hoher Arbeitszufriedenheit, einer langen Institutionszugehörigkeit und vielen intensiven, persönlich bereichernden Begegnungen mit Klienten (vgl. Kuhn et al., 2019). Dennoch ist es immer wieder erstaunlich, welch schlechtes Image die Suchthilfe in der Öffentlichkeit besitzt. Dies bezieht sich teilweise sogar auch auf die Fachöffentlichkeit, wenn damit die gesamte Community der in den Bereichen Medizin, Psychotherapie oder Soziale Arbeit Tätigen gemeint ist. Ich musste sogar erleben, dass Dozenten an Hochschulen jungen Studenten proaktiv von einer späteren Tätigkeit in der Suchthilfe abgeraten haben.
Es spricht vieles dafür, dass die negativen Stereotype und Zuschreiben, die Suchtkranke treffen, auch auf die Fachkräfte in der Suchthilfe übertragen werden. Dies sicherlich in geringerer Stärke, aber doch mit erkennbaren Effekten. Stigmatisierungsforscher wissen um diesen Effekt, der alltagssprachlich als „Sippenhaft“ bezeichnet wird. Die stigmatisierenden Zuschreibungen, die einer Personengruppe – in unserem Fall den Suchtkranken und besonders den Drogenabhängigen – gelten, werden auf die Personen in ihrem Umfeld (Angehörige, Kinder, aber auch Berater und Therapeuten) übertragen. Insofern gelten die Fachkräfte in der Suchthilfe oft auch bei Kolleginnen und Kollegen in anderen Bereichen als wenig zuverlässig, exzessiv, lustgesteuert, impulsiv, unberechenbar oder gar leicht deviant.
Leider liegen zu diesem hochgradig tabuisierten Thema nur sehr wenige Forschungsarbeiten vor. Wie aus dem Memorandum zur Stigmatisierung Suchtkranker (Prof. Schomerus und Prof. Rumpf) hervorgeht, sind die Suchtkranken eine der am stärksten stigmatisierten Gruppe innerhalb aller Menschen mit einer psychischen Störung. Die Effekte auf die Fachkräfte der Suchthilfe stellen eine latente Mit-Stigmatisierung dar. Ich bin in meinem langjährigen beruflichen Alltag in der Suchttherapie und Suchtforschung diesem Phänomen oft begegnet. Auch aus diesem Grund ist es wichtig, dass sich die Fachkräfte der Suchthilfe am öffentlichen Diskurs zu Suchtfragen – auch zu drogenpolitischen Fragen (vgl. „Deutsche Drogenpolitik im Dornröschenschlaf? – Diachrone Betrachtungen aus der Kultur- und Sozialgeschichte“) – beteiligen und ihre suchtwissenschaftliche Kompetenz deutlich machen. Dies gelingt im Übrigen nur, wenn die Fachkräfte der Suchhilfe – auch im ambulanten Bereich – einen interdisziplinären Hintergrund aufweisen.
Berufliche Wege in die Suchthilfe
Für die Zukunft der Suchthilfe ist es unerlässlich, dass genügend Fachkräfte aus den verschiedenen Disziplinen nachwachsen und in der Suchthilfe ihre berufliche Heimat finden. Dafür muss die Suchthilfe ein attraktives Arbeitsfeld darstellen, in dem sich junge Fachkräfte professionell selbstverwirklichen können. Damit dies geschieht, ist es unerlässlich, dem Thema der Suchtstörungen, ihrer Entstehung, Prävention und Behandlung in den grundständigen Studiengängen der Medizin, Psychologie und Sozialen Arbeit einen angemessenen Platz einzuräumen. Die ist derzeit unter Berücksichtigung der entsprechenden Curricula an Universitäten und Hochschulen nicht der Fall.
Aber auch im Arbeitsfeld müssen günstige Bedingungen für berufliche Weiterentwicklung, Reflektion der eigenen Tätigkeit und Burnout-Prophylaxe vorhanden sein. Dies bedeutet auch einen adäquaten Umgang mit psychischem Arbeitsstress, wie er in der Arbeit mit Suchtkranken als schwieriger, hochbelasteter Klientel entstehen kann. Dies umfasst auch die Enttabuisierung eigener Substanzkonsumprobleme und Suchttendenzen bei den Fachkräften der Suchthilfe (vgl. „Alles total geheim? Suchttherapeuten, eigener Alkohol- und Drogenkonsum und Schameffekte“).
Es ist zwar schön länger bekannt, dass Fachkräfte, die einem hohen, dauerhaften Stress im Berufsleben ausgesetzt sind, einen problematischen Substanzkonsum und Suchttendenzen entwickeln können. Leider ist über habituellen Substanzkonsum oder frühen Substanzkonsum in der Jugend späterer Suchttherapeuten wenig bekannt. Die Suchttendenzen im Arbeitsfeld Sucht können sich natürlich auch auf Verhaltenssüchte (z.B. Essen, Medien usw.) beziehen. Das durchaus naheliegende Thema eigener Suchttendenzen und Stressbewältigungsprobleme bei den Fachkräften wird nach wie vor stark tabuisiert, obwohl es für die langfristige Gesunderhaltung von großer Relevanz ist.
Möglich ist auch der berufliche Weg in die Suchthilfe über eine eigene Abhängigkeitserkrankung. Die entsprechende Gruppe von Professionellen, die als „Ex-User“ bezeichnet werden, spielten in der Frühphase der Drogentherapie in Deutschland eine große Rolle, sind aber inzwischen durch das fast vollständige Verschwinden der therapeutischen Gemeinschaften und anderer institutionalisierter Hilfeangebote aus dem Bereich der Suchtselbsthilfe deutlich seltener geworden.
Die Berufsfeldforschung zeigt, dass der Weg in einen bestimmten Berufsbereich oft auch über familiale Traditionen und Transmissionen geschieht. Eine nicht geringe – aber leider nicht genau bekannte – Anzahl der Studierenden in der Sozialen Arbeit weisen einen Elternteil auf, der ebenfalls diesem Beruf angehört und entsprechend Sozialarbeit oder Sozialpädagogik (damalige Bezeichnungen des Faches) studiert hat. Nicht in jedem Fall haben die Eltern dann auch in der Suchthilfe gearbeitet. Persönlich bin ich aber immer wieder Suchttherapeuten oder –beratern begegnet, bei denen Mutter oder Vater ebenfalls Suchtfachkräfte waren. So wird es möglich, die Geschichte der Suchthilfe auch an Familiengeschichten von Sozialarbeitern nachzuvollziehen.
Kernprobleme der ambulanten Suchtberatung
Qualitätssicherung und Evidenzbasierung – Fremdwörter in der Suchtberatung?
Viel zu lange hat der Bereich der ambulanten Suchtberatung sich nicht um die eigene Qualität und deren Weiterentwicklung gekümmert. Niemand weiß genau, wie wirksam und nachhaltig die Beratung Suchtkranker in Deutschland vor dem Hintergrund der wichtigsten Beratungsziele – Abstinenz bzw. Konsumreduktion, Lebensqualität, soziale Integration, Erwerbsarbeit, Familienbeziehungen, Vermeidung von Wohnungslosigkeit usw. – ist. Dabei gäbe es wahrscheinlich nicht viel zu befürchten, wie die schweizerische Katamnesestudie zur ambulanten Suchtberatung (Haug, 2015) zeigt. Aber auch wenn es markante Qualitätsdefizite gäbe, sollte man sie offenlegen, genau analysieren, um sie zu beheben. Diese Mentalität herrscht bei den Trägern, vielen Leitungen und Fachkräften bisher zu wenig vor, sonst wäre das Problem längst gelöst.
Innovationen blühen vielerorts – sie müssen flächendeckend implementiert werden!
Dennoch gibt es viele lokale Initiativen zur Qualitätssicherung und konzeptionellen Weiterentwicklung einzelner Suchtberatungsstellen in Deutschland. Mehr als 100 Beratungsstellen machen inzwischen – anfangs oft gegen den Widerstand ihrer Träger – Angebote zum reduzierten Alkoholkonsum, viele haben sich für niedrigschwellige Hilfen für Alkoholabhängige engagiert, manche halten Angebote für aufhörbereite Raucher vor. Ebenfalls ca. 100 Suchtberatungsstellen haben Angebote für Kinder suchtkranker Eltern etabliert. Einige Webseiten von Suchtberatungsstellen sind vorbildlich (informativ, motivierend, mit digitalen Hilfeangeboten).
Berufliche Monokultur in der ambulanten Suchtberatung ist ein Grundsatzproblem
Aber alles in allem sind viel zu wenige Suchtberatungsstellen in der Fläche innovativ, modern und bedarfsgerecht. Diese Aufzählung zeigt das – oft latente – Potential vieler Suchtberatungsstellen, gleichzeitig aber auch das Dilemma: Es fehlt an übergreifender Koordination und Steuerung durch Kosten- und Leistungsträger. Sicherlich teilweise auch ein Resultat der übermäßig kommunalisierten, föderalen Struktur und der Finanzierungsdefizite. Deutsche Kleinstaaterei eben. Aber auch die berufspolitische Monokultur in vielen Beratungsstellen tut ihr Übriges.
Immerhin ca. 70% aller ambulanten Fachkräfte entstammen der Sozialen Arbeit. Dort haben Empirie, quantitative Studien und Evidenzbasierung keine fachliche Heimat. Das liegt an der Hochschulausbildung und perpetuiert sich von Generation zu Generation. Man beschäftigt sich inzwischen mehr mit Ideologien, Gesellschaftsutopien, Migrations- und Identitätspolitik als mit dem handfesten Geschäft der Hilfen für Menschen in Not und der Analyse und Evaluation der eigenen Leistungen in der Praxis. Es blühen zwar Ideen und Kreativität, aber auch Stillstand und Modernisierungsfeindlichkeit haben ihren festen Platz. Wie ist dieses Dilemma aufzulösen?
Evidenz ist generierbar und lässt sich zur Basierung der eigenen Arbeit weiterentwickeln
Die evaluative Sicht auf die eigene Arbeit – hier die Beratung Suchtkranker und Suchtgefährdeter – ließe sich in Evidenz umsetzen. Das Kölner Memorandum zur Evidenzbasierung in der Suchtprävention von 2014 zeigt den Weg auf. Evidenzbasierung entspricht dabei „der gewissenhaften, vernünftigen und systematischen Nutzung der gegenwärtig bestmöglichen theoretisch und empirisch ermittelten wissenschaftlichen Erkenntnisse als auch des Praxiswissens sowie des Wissens der Zielgruppen für die Planung, Implementierung, Evaluation, Verbreitung und Weiterentwicklung von verhältnis- und verhaltensbezogenen Maßnahmen. Die Generierung neuen Wissens für evidenzbasierte Suchtprävention erfolgt im Kontext von Forschung und Praxis“. Die Internalisierung dieser Grundhaltung würde der ambulanten Suchthilfe ermöglichen, zu einer tragfähigen empirischen Basis ihrer Leistungen zu kommen, die Effekte der eigenen Hilfen zu evaluieren sowie auf Schwächen und Defizite adäquat zu reagieren.
Innovationen für die ambulante Suchtberatung
Forschungsfragestellungen für Suchtberatung – zuhauf
Eine forschungssensible Suchtberatung findet relevante Forschungsfragestellungen zuhauf. Im Folgenden einige Beispiel, die nach wie nicht beantwortet werden können:
Wie wirkt Suchtberatung als solche? Welche Angebote der Suchtberatung führen zu welchen Ergebnissen? Wie sind die Ergebnisse von Kurzzeitberatung im Vergleich mit längeren Beratungsprozessen? Rentiert sich Langzeitberatung und wie sind die Prozesse bei Langzeitklienten? Welche Rolle kann ambulante Suchtberatung in der Rückfallprävention spielen? Wie sind die Beratungsergebnisse in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Ethnizität und Suchtformen der Klientel? Welche Rolle spielen Geschlecht und Berufserfahrung der Berater? Wie verlaufen längerfristige Behandlungsfälle?
Die ist nur eine kleine Auswahl relevanter Forschungsfragestellungen, die nach dem Forschungsstand für den Bereich der deutschen Suchthilfe bislang nicht befriedigend zu beantworten sind. Weitere relevante Forschungsfragestellungen lassen sich mühelos ergänzen. Da es in Deutschland bislang keine institutionell verankerte Suchthilfeforschung gibt, steht eine alsbaldige Beantwortung dieser und anderer Forschungsfragestellungen auch nicht in Aussicht.
Verhaltensorientierte Beratung („behavioral counselling“)
Die ambulante Suchtberatung stützt sich in der Praxis auf verschiedene Beratungskonzepte und –methoden. In den letzten Jahren hat besonders die systemische Beratung aufgrund der Ausbildungssituation an den Hochschulen an Bedeutung gewonnen. Leider ist die personenzentrierte Beratung, die in früheren Jahren von großer Relevanz war, sehr in den Hintergrund getreten. Kaum bekannt sind die im internationalen Raum sehr wichtigen Ansätze verhaltenorientierter Beratung („behavioral counselling“), die eine große Alltagsbedeutung und Praxisrelevanz, z.B. für Rückfallprävention und Trinkmengenreduktion, aufweisen. Durch die inzwischen deutlich verbesserte Fortbildungssituation im Bereich „Motivational Interviewing“ sind wenigstens motivierende Beratungsansätze, die oft Aspekte personen- und verhaltensorientierter Beratung umfassen, in Deutschland breiter vertreten. Insgesamt sollten die Suchtberatungsdienste stärker verhaltenspsychologische Methoden in ihre Alltagsarbeit integrieren.
Kommunale Vielfalt der Suchtberatung – oder eher unübersichtliche, hyperföderale Strukturen?
Die oft anzutreffende Modernisierungs- und Forschungsdistanz der Suchtberatungsstellen hat zunächst eine Menge mit der problematischen kommunalen Finanzierungsstruktur und der Tatsache zu tun, dass einzelne Kommunen nicht die Arbeit ihrer Suchtberatungsstelle im Alleingang evaluieren (lassen) können. Die übergeordneten Gebietskörperschaften (Kreise, Bezirke, Bundesländer) oder Vereinigungen (Städtetag, Kreistag) haben dazu weder Auftrag noch Notwendigkeitsbewusstsein – wenigstens im Regelfall. So kommt es, dass die Suchtberatungsstellen weitgehend vor sich selbst „hinwurschteln“. Oft, ohne dass sie es so wollen.
Auch die Träger der Suchtberatungsstellen, die überwiegend in konfessioneller Hand sind, haben dazu keine Ressourcen und sehen sich auch nicht in der Pflicht für eine nationale Evidenzbasierung der ambulanten Suchtberatung. Da es in Deutschland nach wie vor keine nationale Suchtforschungseinrichtung gibt, bleiben auch diese Aufgaben, die eine Suchthilfeforschung konstituieren würden, unerledigt. Bis auf einzelne lobenswerte Ausnahmen. Auch die deutsche Suchthilfestatistik, die schon seit Jahren einen Leuchtturm der Dokumentation im Suchthilfebereich darstellt, kann bislang keine Antworten auf Fragen der Ergebnisqualität der ambulanten Suchtberatung liefern. Es gibt lediglich Einschätzungen durch die Berater zu Beginn und zum Ende des Beratungsprozesses. Dies ist aber für eine valide Evaluation oder gar Effektivitätsbeurteilung zu wenig. Es liegen aber immerhin ausführliche Daten zu Fragen der Strukturqualität und den behandelten Klienten in verschiedenen Bereichen der Suchthilfe vor. Diese Daten wären in hervorragender Weise an weitergehende Evaluationen der ambulanten Suchthilfe anschlussfähig.
Suchtberatung als monokulturelles Tätigkeitsfeld: Gender und Soziale Arbeit
Ein weiterer Grund für die Forschungs- und Modernisierungsdefizite der ambulanten Suchthilfe in Deutschland ist der berufliche Hintergrund der Fachkräfte. Vor Jahren war hier noch mehr Diversität. Inzwischen arbeiten in diesem Bereich ganz überwiegend Sozialpädagoginnen und Pädagoginnen und es kommt immer mehr zu einer Monokultur. Es haben sich also zwei Trends in den letzten 25 Jahren mit Macht durchgesetzt:
- Der ehemals interdisziplinäre Ansatz in der Suchtberatung mit fest angestellten Sozialarbeitern, Psychologen, Pädagogen, oft noch Soziologen und Theologen ist einer weitgehenden Monokultur der Sozialen Arbeit (einschl. Sozialpädagogik, Pädagogik) gewichen. 70% bis 80% der Fachkräfte in den Suchtberatungsstellen entstammen diesen Berufsgruppen (Deutsche Suchthilfestatisitk). Psychologen und Mediziner sind meist selten und oft nur als Honorarkräfte für wenige Arbeitsstunden in der Woche an die Suchtberatungsstelle gebunden. Diese Entwicklung widerspricht völlig der – zu Recht – vielbeschworenen Interdisziplinarität der Hilfen und sorgt für weniger fachlichen Austausch und reziproken Kompetenzgewinn.
- Die dann vorherrschend vorhandenen Fachkräfte aus der Sozialen Arbeit unterliegen wiederum einem anderen Trend: Der Feminisierung der Sozialen Arbeit. Schon seit langem sind ca. 75% der Absolventen in Sozialer Arbeit an den Fachhochschulen Frauen. Der Trend nimmt derzeit eher noch zu („gender spread effect“). Und dies in Anbetracht einer überwiegend männlichen Klientel bei den Suchtstörungen in den Bereichen Alkohol, Drogen und Glücksspiel. Der entstehende Effekt ist eine Komplementarität der Geschlechter, die grundsätzlich positiv sein kann, in dem inzwischen erreichten Ausmaß jedoch mehr als eine zu vernachlässigende Unwucht darstellt. Die jungen Fachkräfte, die heute von den Fachhochschulen mit Bachelor-Abschluss in die Praxis kommen, haben darüber hinaus im Studium oft mehr über Feminismus, Bildung und Identitätspolitik gehört als über Sucht, Wohnungslosigkeit und Straffälligkeit. Postmoderne weiche und identitätspolitisch aufgeheizte Themen haben die Kernthemen der Sozialarbeit verdrängt. All diese Entwicklungen stellen eine Bedrohung der Qualität und Effizienz der praktischen Arbeit in der Suchthilfe dar. Bislang scheint es so, dass viele junge Fachkräfte eine besondere Hingabe für die Tätigkeit in der Suchthilfe mitbringen, es bleibt jedoch fraglich, ob dies auf Dauer die negativen Tendenzen ausgleichen wird.
Zahlen und Fakten zur Monolithisierung der ambulanten Suchthilfe
Die deutsche Suchthilfestatistik 2019 weist bei 863 von insgesamt knapp 1.300 ambulanten Suchthilfeeinrichtungen, die an den Befragungen teilgenommen haben beim Personal folgende Zusammensetzung aus:
Durchschnittlich sind 7.8 Mitarbeiter pro Suchtberatungsstelle mit Festanstellung vorhanden, von denen 5 aus der Sozialen Arbeit sind. Knapp zwei Drittel der Mitarbeiter in Suchtberatungsstellen sind Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Hinzu kommen Mitarbeiter mit einem erziehungswissenschaftlichen/pädagogischen Abschluss. Wenn man die Verwaltungskräfte nicht mit einrechnet, steigt der Anteil der Sozialpädagogen auf über 80%, insbesondere wenn auch noch Pädagogen, Erziehungswissenschaftler und Sozialwissenschaftler miteinbezogen werden. Es kommt somit zu einer Monolithisierung der ambulanten Suchthilfe: Es gibt zwei Prototypen, die sich final in einem vereinigen: Die weibliche Fachkraft aus der Sozialen Arbeit als die Standardmitarbeiterin in der ambulanten Suchhilfe.
Beide Phänomene – Sozialpädagogisierung und Feminisierung – in Kombination verstärken, dass die ambulante Suchtberatung sich eher nicht um Modernisierung und Forschung kümmert. Die Curricula der Sozialen Arbeit an den Fachhochschulen lehren weitestgehend keine entsprechenden Dokumentations- und Forschungsmethoden. Die weiblichen Studierenden der Sozialen Arbeit fokussieren sich erkennbar oft im Studium auf die konkrete Arbeit mit Menschen (Hilfen, Begleitung, Beratung) und zeigen wenig Interesse an quantitativen Methoden und entsprechenden Forschungsansätzen. Auch das Interesse an technischen oder digitalen Innovationen ist bei den weiblichen Studierenden der Sozialen Arbeit zumeist nicht stark ausgeprägt.
Was dagegen inzwischen im Bereich der ambulanten Suchtberatung vorliegt, ist eine weitgehend homogene berufsständische Orientierung und Identifikation als Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Ich will damit nicht sagen, dass dies falsch ist. Im Gegenteil. Die Stärke der Berufsgruppe ist zweifellos der soziale Blick auf menschliche Lebenslagen. Es gehört nur in einen anderen Kontext. Ambulante Suchtberatung und Suchthilfe sind eben nicht – wie bisweilen behauptet – Felder der Sozialen Arbeit. Denn sie dürfen es nicht ausschließlich sein. Es müssen Felder der interdisziplinären Hilfen sein, mit starkem Gewicht auf Sozialer Arbeit.
Doppelte Monostruktur in der Suchtberatung – ein Hindernis für Vielfalt und Diversität
Diese doppelte Monostruktur in der Suchtberatung (Soziale Arbeit; weibliches Fachpersonal) hat eine ambivalente Funktion. Auf der einen Seite schafft sie professionelle und persönliche Nähe in den Teams, weil sich die Fachkräfte untereinander ähnlicher sind. Dies dürfte die interne Kommunikation erleichtern. Auf der anderen Seite bringt die Bi-Monokultur (weibliche Fachkräfte der Sozialen Arbeit) die Gefahr der rigiden Abgrenzung gegen andere professionelle und kognitive Haltungen mit sich. Also ein Weniger an Austausch, Diskursqualität und Interdisziplinarität. Die doppelte Monostruktur in der ambulanten Suchtberatung widerspricht auch den Ideen der Diversität und Heterogenität. Und die Akzeptanz und Empathie für bestimmte Klientengruppen (z.B. ältere suchtkranke Männer) könnte – bewusst oder unbewusst – nachlassen.
Wie können die Nachteile der Bi-Monokultur aufgelöst oder wenigstens kompensiert werden?
Die Potentiale der ambulanten Suchtberatung sollten in lokalen und überregionalen Modernisierungsworkshops und Evidenzbasierungs-Arbeitsgemeinschaften mit kompetenten Fachkräften und Leitungen gebündelt und weiterentwickelt werden. Suchtberatungsstellen müssen moderner und innovativer werden. Dies kann durch mehr professionelle, genderbezogene und auch ethnische Durchmischung der Teams geschehen. Die Anerkennungskriterien für Suchtberatungsstellen müssen erweitert und liberalisiert werden, so dass mehr Wettbewerb und Innovationsdruck entsteht. Das bisherige Monopol der Wohlfahrtsverbände ist nicht sehr innovationsförderlich und sollte aufgegeben werden.
Expertisen über Expertisen – aber was ändert sich dadurch?
Auffällig ist die große Zahl von Expertisen, die in den letzten Jahren zum Bereich der ambulanten Suchthilfe entstanden sind. Prof. Rita Hansjügens (ASH Berlin) im Auftrag von CASU und GVS sowie das RWI –Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (Essen) im Auftrag des BMG sind nur zwei Beispiele. Grundsätzlich ist die wissenschaftlich-fachliche Auseinandersetzung mit dem Tätigkeitsfeld zu begrüßen, wenn es tatsächlich für eine Weiterentwicklung und Evidenzbasierung sorgt.
Die Expertisen und Konzeptpapiere zur ambulanten Suchthilfe in Deutschland betonen die zentrale Rolle der Suchtberatung für Teilhabe, niedrigschwellige Zugangsweisen und Vermittlung. Die Expertisen behandeln eher den strukturellen, sozialpolitischen Aspekt der ambulanten Suchthilfe/Suchtberatung. Fragen der Softskills, der Arbeitsformen, Inhalte und Ziele ambulanter Suchtberatung bleiben jedoch leider unberücksichtigt. Dass Suchtberatung prozessual und vernetzt geschieht, ist als Erörterung der Arbeitsformen zu wenig und zu allgemein.
Es bleibt vor allem unerwähnt, dass die Fachkräfte, die heutzutage mit Bachelor-Abschluss in Sozialer Arbeit (Fachhochschule) in die Praxis kommen, regelhaft keine praktische Beratungskompetenz mitbringen. Es sind also wesentliche zusätzliche Qualifikationsmaßnahmen in der Praxis notwendig, um eine adäquate professionelle Kompetenz zu erreichen.
Merke: Eine wirksame und effektive Suchtberatung kann nicht ohne hohe professionelle Beratungskompetenz stattfinden. Diese ist oft am Anfang der beruflichen Laufbahn nicht gegeben und wird durch die beschriebene Bi-Monokultur in der ambulanten Suchthilfe zusätzlich erschwert.
Die diversen Konzeptpapiere der Suchtfachverbände lassen also offen, wie hoch die tatsächliche Fachkompetenz in den Beratungsstellen ist und wie sie entwickelt und überprüft werden soll. Zusätzlich geht aus ihnen kein empirisch überprüfter, sondern lediglich ein postulierter Wirkbeleg der ambulanten Suchtberatung hervor.
Suchthilfe wirkt – ein Spekulationspapier
Ein regelrechtes „Spekulationspapier“, das – u.a. auf der DHS-Website – als Wirknachweis der ambulanten Suchtberatung erwähnt wird, zeigt exemplarisch, wie weit der Weg der Evidenzgenerierung und –basierung in der deutschen Suchtberatung noch ist. Die Studie wird mit dem Titel „Suchtberatung wirkt“ zitiert. Dass eine solch stark postulierende Aussage alle Regeln wissenschaftlichen Arbeitens verletzt, wenn im Folgenden keine belastbaren Ergebnisse geliefert werden, wird bei der Lektüre des Beitrags schnell deutlich. Sie müsste korrekterweise heißen „Wirkt Suchtberatung?“ und mit einem klaren „Vielleicht“ enden. Der konfirmatorische Titel der Studie soll offenbar über das vollständig spekulative Vorgehen hinwegtäuschen.
Es geht bei dem Verfahren darum, die Wirkungen der Arbeit einer psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle (PsBB) – in diesem Fall in Görlitz – abzuschätzen. Im Einzelnen heißt es in dem Papier:
„Da die Wirkungen der PsBB mit den verfügbaren Mitteln nicht empirisch nachzuweisen sind, werden die Effekte fachlich fundiert und plausibel abgeschätzt“ (S. 74). Und weiter: „Die Ergebnisse des Wirkungsketten-Workshops wurden von der xit GmbH in eine Wirkungslandkarte übertragen, die nach Kommunikationsanlass, Angebot, Stakeholder oder Reichweite der geschätzten Wirkung zu filtern ist. […] Mittels eines Fragebogens dokumentierten die Berater/innen der PsBB die wahrscheinlich eintretenden Eskalationen und Folgen für die Klientin/den Klienten und auch für Dritte, wenn die PsBB nicht genutzt werden würde. Im Fragebogen wurden neben einer Fallbeschreibung und den bereits geleisteten und geschätzten zukünftigen Beratungsstunden die Worst Case Szenarien abgefragt, die wahrscheinlich ohne die PsBB eintreten würde“ (S. 74).
„Gäbe es die psychosoziale Beratungs- und Behandlungsstelle des Sozialteams nicht, so würde in den nächsten zwölf Monaten folgende Eskalation auf die Person (und ihr Umfeld) zukommen […]: Konflikte am Arbeitsplatz, Verlust des Arbeitsplatzes (da Beratung Auflage des Arbeitgebers ist), Konflikte im Wohnumfeld, Trennung/Scheidung, Beziehungsstörung, Kontaktverlust zu Kindern, Ko-Erkrankungen im familiären/persönlichen Umfeld, psychische Erkrankung/Komorbidität, Überschuldung, wirtschaftliche Existenz bedroht“ (S. 76).
Die Zitate machen schnell klar, auf welchen spekulativen, hypothetischen Füßen die Methodik der Studie fußt.
Ambulante Suchtberatung wirkt – aber nur in der Schweiz nachgewiesen!
Dass die Effektivität der ambulanten Suchtberatung durchaus in empirischen Studien erforscht werden kann, zeigt eine wichtige Studie aus der Schweiz (Haug, 2015). Die Wirksamkeit von Beratung lässt sich messen und sollte auch empirisch belegt werden! Und dies nicht auf der Basis rein hypothetischer oder spekulativer Annahmen. Beratung als zentrales Angebot der Suchthilfe muss sich ähnlich wie andere Interventionen einer Wirksamkeits- und Effizienzanalyse unterziehen. Dies setzt Dokumentation der Beratungsfälle (geschieht meist schon) und nachgehende Befragungen (Katamnesen; geschieht in Deutschland leider nicht routinemäßig) voraus. Es ist rätselhaft, wie es sein kann, dass nach mehr als 40 Jahren Etablierung der ambulanten Suchtberatung in Deutschland immer noch keine verlässlichen Wirksamkeitsstudien vorliegen. Dies ist lediglich für den Partialbereich der ambulanten Suchtrehabilitation durch die Arbeiten des Fachverbandes Sucht e.V. (FVS) und des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) geschehen.
Für den Bereich der ambulanten Suchtberatung liegt eine Evaluation der Wirksamkeit aus der Schweiz vor (Haug, 2015). Es bleibt also unklar, wieso es die ambulante Suchthilfe, die sich zu mehr als 90% in der Trägerschaft von Wohlfahrtsverbänden befindet, es innerhalb von mehr als 4 Jahrzehnten nicht vermocht hat, ihre Effektivität und Effizienz systematisch zu evaluieren und sich auf der Basis empirischer Ergebnisse weiterzuentwickeln.
Die schweizerische Untersuchung mit 858 Klienten aus 5 ambulanten Behandlungseinrichtungen basiert auf Prä-, Post-Erhebungen im Beratungsverlauf mit anschließenden Katamnesen im Abstand von 6 und 12 Monaten. 44% der Klienten strebten eine Trinkmengenreduktion, 41% totale Alkoholabstinenz an. Die Klienten hatten durchschnittlich 10 Einzelsitzungen und eine Gruppensitzung erhalten. Von den Klienten mit problematischem Alkoholkonsum (gemessen mittels AUDIT-C) bei Eintritt in die Beratung hatten 45% zum Abschluss der Beratung einen nicht-problematischen Konsum erreicht. Sechs Monate nach Beratungsende waren es noch 41%, 12 Monate danach 43%, die einen nicht problematischen Alkoholkonsum angaben.
Exemplarisch für Defizite der ambulanten Suchtberatung: Thema Nikotinabhängigkeit
Neben dem empirischen Forschungsdefizit der ambulanten Suchtberatung sind auch Versorgungsdefizite zu benennen. Als ein exemplarisches Thema der mangelnden Bedarfsgerechtigkeit und Evidenzbasierung der ambulanten Suchtberatung soll das Thema „Nikotinabhängigkeit“ betrachtet werden. Bei immer noch mehr als 6 Mill. Nikotinabhängigen in Deutschland und ca. 115.000 Todesfällen jährlich aufgrund von raucherbedingten Folgeerkrankungen müsste dies ein prioritäres Thema der Suchthilfe sein. Bei mehr als 124.000 Beratungs- und Behandlungsfällen im Jahr 2019 waren es lediglich 2.560 Fälle (= 2.1%), die wegen Nikotinabhängigkeit als Primärproblem behandelt wurden.
Bei der inzwischen eindeutig gestiegenen Zahl aufhörwilliger Raucher ist es ein großes Defizit der ambulanten Suchthilfe in Deutschland, sich dieser Klientel nicht mit Nachdruck zuzuwenden. Dabei betrifft der Wunsch nach Aufhören mit dem Rauchen bei weitem nicht nur die Nikotinabhängigen, sondern auch viele Gelegenheitsraucher: Rund 31 Prozent der Raucher rauchen nur gelegentlich, etwa 24% rauchen täglich bis zu 10 Zigaretten; rund 23% rauchen am Tag 11 bis 19 Zigaretten und 21% rauchen stark, das heißt 20 Zigaretten am Tag oder mehr. Mit zunehmendem Alter steigt bei beiden Geschlechtern der Anteil der täglichen Raucher, bei den Männern noch stärker als bei den Frauen. 9.5% aller Erwachsenen (10.8% der Männer und 8.2% der Frauen) gelten als nikotinabhängig. Dies sind gut 6 Mill. Menschen, denen von Seiten der ambulanten Suchthilfe kein adäquates Angebot gemacht wird.
Einige Entwicklungsaufgaben der ambulanten Suchtberatung
Suchtberatung als zentraler Bestandteil der ambulanten Suchthilfe muss evidenzbasiert, innovativ und theoriebasiert mit hoher Handlungskompetenz weiterentwickelt werden. Dies ist eine Aufgabe der Praxis und Forschung einerseits sowie der Leistungs- und Kostenträger und der Politik andererseits. Der Weg dahin ist noch weit, aber er sollte sich lohnen, um den Nucleus eines modernen Suchthilfesystems zu entwickeln. Wichtig ist die Überwindung pauschaler Haltungs- und Glaubenssätzen (Konfession) und die Erreichung des Ziels evidenzbasierter Souveränität (Profession).
Die wichtigsten Entwicklungsaufgaben auf diesem Wege sind:
- Durchgängige, routinemäßige Evaluation der Leistungen der Suchtberatung mit Prä-, Post- und Katamnesedaten der behandelten Klienten.
- Alle Bereiche der ambulanten Suchthilfe müssen evidenzbasiert handeln (z.B. in Form von Leitlinien für ambulante Suchtberatung und –therapie).
- Zusammenwachsen der Interventionsformen (Prävention, Beratung, Therapie) in koordinierte, systemische und transgenerationale Leistungen.
- Nachgehende Hilfen für Suchtklienten und Angehörige aus einer Hand zum Management der Suchtzyklik, incl. Krisensituationen, Rückfällen, Suchtverlagerung.
- Zieldifferenziertes und –offenes Vorgehen bzgl. Konsum- und Behandlungszielen.
- In-Time-Hilfen bei Rückfälligkeit und anderen Problemlagen unter Nutzung digitalisierter Methoden.
- Suchtberatung für alle Suchtformen, einschl. Nikotinabhängigkeit, Essstörungen.
- Drogenberatung muss auch Konsum- und Risikoberatung umfassen.
- Komorbiditäten müssen adäquat und nach Möglichkeit synchron behandelt werden.
- Suchtberatung umfassend von der Konsumberatung bis zur Ausstiegsberatung.
- Suchtbehandlung muss generationensensibel werden und familiale Risiken berücksichtigen.
- Es muss einen Innovationsschub in Richtung Digitalisierung und E-Mental-Health-Ansätze geben.
Literatur:
Grawe, Klaus, Donati, Ruth & Bernauer, Friederike (2001, 5. unveränd. Auflg.). Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe.
Haug, Severin (2015). Wirksamkeit ambulanter Beratung bei Alkoholproblemen. Zürich: Schweizer Institut für Sucht‐ und Gesundheitsforschung (ISGF), ISGF Bericht 356. Downloadbar hier.
Kuhn, U., Graß, J. & Klein, M. (2018). Aktuelle Ergebnisse aus der vergleichenden Berufsfeldforschung: Psychische Belastungen und Burnoutrisiken im Handlungsfeld der Suchthilfe. Suchttherapie 19, 39 – 45.
Packmohr, Katharina & Weiß, Peter (2020): Suchtberatung wirkt: SROI-Studie zu den volkswirtschaftlichen Einsparpotenzialen durch die Suchtberatung. Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V., 100(2), 74-79.
Ein sehr gelungener Beitrag, insbesondere aus meinem Blickwinkel des langjährig erfahrenen Mitarbeiters im klinischen Setting Drogen- und Alkoholtheeapie. Suchttherapie und Suchtberatung wirken direkt auf die Klienten, aber die Wirkfaktoren in unserer Arbeit sind wenig systematisch erfasst und standardisiert. Durch die Erforschung, Evaluierung und Standardisierung der Suchttherapie-Methoden kann ein großer Schritt nach vorne getan werden. Ich habe dies im Rahmen einer Theorie- und Methodenbildung für den Bereich Sporttherapie mit jungen Abhängigkeitskranken
modellhaft in den letzten 20 Jahren vorgenommen. Dabei ist mir aufgefallen, wie schwach vernetzt die Suchttherapie mit der Forschung und Wissenschaft ist. Gerade als Pionier der systematischen Sporttherapie im Bereich der klinischen Suchtherapie liegt hier mein besonderes Augenmerk.
Die Enttabuisierung, Professionalisierung und Würdigung der Suchttherapie und Suchtberatung in der breiten Öffentlichkeit und Politik sind dafür besonders wichtig.