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„Männer als Täter“ – stereotyp und nicht zielführend:
„Es ist kein Zufall, dass der Täter ein Mann war…“, so wurde die mörderische Tat von Trier (01.12.2020) von einem „Männerexperten“ unlängst auf Cicero-Online und auch andernorts kommentiert. Der Täter sei in männlichen Monokulturen sozialisiert worden, diese seien gefährlich, das mache ihn zur gewalttätigen Zeitbombe usw. So geht das feministisch inspirierte Narrativ vom toxischen Mann als Täter. Aber die Wirklichkeit ist komplexer und nicht so schwarz und weiß, wie es derartig simplizistische Weltbilder verheißen. Im Gegenteil: Diese identitätspolitisch motivierten Weltbilder (Männer: privilegiert und gefährlich; Frauen: benachteiligt und gefährdet) sind stereotyp, diskriminierend und in sich riskant, Spaltungen weiter zu vertiefen und Hass zwischen den Geschlechtern zu fördern. Schauen wir also mal genauer hin. Dies ist ohnehin der vornehmste Auftrag von Wissenschaft.
Fast die Hälfte der Bevölkerung ist männlich – ein Zufall?
Was soll die Aussage vom Mann als nicht zufälligem Täter bedeuten? Genau 49.34% der deutschen Bevölkerung waren im Jahre 2019 männlichen Geschlechts. Fast jeder zweite hätte also Täter sein können!? Die männliche Täterschaft hat System, heißt es dann schnell, und ganz schnell ist die Betrachtung bei toxischer Männlichkeit und ähnlichen Kampfbegriffen, die faktisch auf ganze 0.1% der Männer zutrifft. Derartige Argumentationen erweisen sich also schnell als Irrweg und bestätigen ideologische Vorurteile, ohne dass sie Lösungen produzieren wollen oder können. Es handelt sich faktisch um eine Risikoerhöhung für Gewalttaten durch Männer.
Aus dem Geschlecht alleine lassen sich aber keine Gewalttaten vorhersagen, ganz abgesehen davon, dass Männer selbst auch die häufigsten Opfer von Gewalttaten insgesamt (nicht Partnergewalt!) sind, was gesellschaftlich kaum bekannt ist oder gar beachtet wird. Bei genauerer Betrachtung hilft die Aussage von den Männern als Tätern nicht weiter, weil sie die Hälfte der Bevölkerung zu potentiellen Tätern stigmatisiert und die Tatursachen dennoch nicht annähernd erklären kann. Dafür ist ein differenziertes psychologisches und systemisches Denken ohne Geschlechtstabus notwendig. Dies bedeutet auch das Gewaltverhalten von Frauen zu betrachten und subtile und emotionale Formen der Gewalt mit zu berücksichtigen. Die Aussage von den Männern als Tätern verkennt außerdem, dass Männer als Gruppe heterogener sind als es die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in relevanten Persönlichkeits- und Wesensmerkmalen sind.
Externalisierung ist ein männlicher Stressbewältigungsmechanismus
s ist jedoch ein längst bekannter und stereotyper Kern in der Bezeichnung der Männer als Täter enthalten, jedenfalls wenn es um physische Gewalt geht: Jungen und Männer neigen zu externalisierendem Verhalten, Mädchen und Frauen zu internalisierendem. Das Phänomen der Externalisierung bedeutet, dass Jungen und Männer im Allgemeinen und besonders unter emotionalem Stress ihre Handlungen nach außen richten. Bei starkem emotionalem Stress und der Unfähigkeit sich emotional adäquat auszudrücken können sich die Handlungen im Extrem auch gegen andere richten. Entweder gezielt oder – wiederum als Extrem – wahllos.
Die Externalisierung kann von aggressiver, durchaus passender Selbstbehauptung bis zum kriminellen Gewaltakt reichen. Die stärkere Tendenz zur Externalisierung bei Männern hat nach überwiegender Meinung der Wissenschaft sowohl biologische als auch soziokulturelle und psychologische Ursachen. Männer neigen in fast allen Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmalen zu mehr Extremen: Es hat nie einen weiblichen Mozart oder Beethoven gegeben, aber eben auch keinen Jack the Ripper oder Vlad Dracula. Dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern firmiert als Extremitätstheorie der Geschlechtsmerkmale und hat biologische wie kulturelle Ursachen.
Auffällige Jungen müssen gefördert und gefordert, aber vor allem geliebt werden
Mit der Veränderung der Rollenbilder in modernen Gesellschaften verschwinden die grundlegenden Verhaltensmuster des Männlichen und Weiblichen nicht. Sie werden nunmehr – im Falle der männlichen Muster – mehr pathologisiert und stigmatisiert. Diese Effekte sind nicht förderlich für die psychische Entwicklung von Männern. Dies wird oft verkannt oder verzerrt. Die Externalisierungstendenz muss aber idealerweise im Erziehungs- und Bildungsprozess kanalisiert und domestiziert werden.
Mit anderen Worten: Schon Jungen brauchen Freiräume und Situationen, in denen sie die Externalisierungstendenz – am besten unter Anleitung älterer Jungen oder Männer– sozial adäquat ausleben und kontrollieren lernen. Sie brauchen Rituale und Unterstützung, um sich zu messen, sich selbst besser kennenzulernen, mit ihren Aggressionen und Emotionen umzugehen, ohne diese zu pathologisieren. Die heutigen Familien und Schulen bieten dafür immer weniger Gelegenheit, weil auf der einen Seite Frauen dominieren, die mit „gesunder“ männlicher Aggression oft Probleme haben und diese vorschnell eindämmen oder einseitig unterdrücken. Auf der anderen Seite fehlen in den Familien oft die Väter, werden nach Trennung ferngehalten oder verhalten sich – wenn sie anwesend sind – real schlecht oder sind emotional unerreichbar.
Transfer zur Tat in Trier am 01.12.2020
Konkret zum Trierer Fall „Bernd W.: Nach allem, was inzwischen bekannt ist (und das ist für ein Delikt dieser Tragweite erstaunlich wenig), stellt der Täter keinen einsamen Wolf mit männerbündischer Prägung dar, sondern viel eher eine Person von der Sorte sozial isolierter, emotional verwahrloster Mann, der sich chronisch ausgestoßen, ungeliebt und nicht zugehörig fühlte. Er sei in der Schule als der „dicke Bernd“ gehänselt, vom Vater oft geschlagen worden, habe Probleme mit Frauen gehabt und sei mehr und mehr zum chronischen Alkoholkonsumenten geworden. Auch galt er als impulsiv und unbeherrscht, im Sozialkontakt aber vordergründig freundlich und angepasst.
Um es an dieser Stelle klar zu sagen, es geht bei der psychologischen Fallbetrachtung nicht darum, irgendetwas an der entsetzlichen Tat zu entschuldigen. Es kann nur darum gehen, zu verstehen, was hier aus welchem Kontext und Gründen heraus geschehen ist. Dies kann einen Sinn machen, wenn die Erkenntnisse auf Defizite in den Bereichen Erziehung, Bildung und Prävention hinweisen, die behoben werden können. Darum soll es hier gehen.
Der dicke Bernd ist nur ein Zerrbild toxischer Männlichkeit
Es spricht nach den vorliegenden Informationen vieles dafür, dass sich ein chronisch vereinsamter, alkoholabhängiger Mann mit der Geschichte eines Ausgestoßenen und einer riesigen Portion innerem Hass fiktiv an der „Menschheit“ rächen wollte. Dafür sprechen auch Posts auf dem Facebook-Profil des Täters wie etwa: “Auf meinem Grabstein sollte stehen: Spart euch die Tränen, wo wart ihr, als ich noch lebte?”. Dies ist ein Hinweis auf extreme Vereinsamung bei gleichzeitigem Hass und vollständiger Externalisierung von Schuld. Der Täter macht in vorauseilender Selbstimmunisierung die anderen zu den Schuldigen für die Taten, die er unter Verlust der Impulskontrolle begehen wird.
Dies ist perfide und primitiv zugleich. Besonders tragisch, dass diese Art der „Exkulpierung“ persönlicher Schuld am Ende sogar ein wenige Wochen altes Baby traf, das Sinnbild der Unschuld, nicht nur in der Weihnachtszeit. Der Täter wünschte sich – und auch das steckt in seiner Aussage auf Facebook – das Mitgefühl und die Empathie anderer in seine Situation. Und dies vermutlich schon sehr lange und ohne größeren Erfolg. Es ist nicht genau bekannt, was er in seiner Biographie an Zuwendung und Hilfe bekommen hat. Aber es wäre nicht überraschend, wenn es nicht viel gewesen ist. Die besondere Tragik des Falles ist es, dass ein frühzeitiges Hinschauen und Helfen vielleicht das Schlimme hätte verhindern können. Vielleicht hätte schon eine frühzeitige Psychotherapie helfen können. Auch dies ein Aspekt der besonderen Tragik des Falles. Aber diese hypothetischen Erwägungen können nichts mehr heilen, was geschehen ist.
Webfehler im Bildungs- und Hilfesystem? Es gibt sie…!
Es geht jetzt vielmehr darum herauszufinden, ob Webfehler im Bildungs- und Hilfesystem vorliegen, deren Beseitigung künftige Fehlentwicklungen verhindern helfen. Und davon ist auszugehen. Es geht – weit jenseits der schlimmen Tat – nicht um böse, toxische Männer, sondern im Vorfeld um einsame, gemobbte Jungen, die auch jetzt gerade in unserem Land aufwachsen und durch die Prozesse der Digitalisierung und Gendrifizierung immer mehr an den Rand der Gesellschaft geraten.
Ein Fall von Alkoholsucht und extremer emotionaler Verwahrlosung
Die Tat hatte im Kern auch nichts mit Frauenhass (Misogynie) zu tun, sondern war ein Akt tiefster Menschenverachtung (Misanthropie). Der Alkohol als zustandsverändernde Droge diente jahrelang zur Betäubung der eigenen negativen Gefühle der Verzweiflung und des Ärgers, bis der Täter vermutlich nicht mehr ohne dessen Wirkung leben konnte. Vermutlich haben sich die klassischen Suchtmerkmale – Verlangen, Toleranzerhöhung, Kontrollverlust, Entzugserscheinungen – aufgebaut. Gemerkt werden es nur die Mittrinker der inzwischen als „Döner-Gang“ bezeichneten Gruppe, in der sich Bernd W. am Ende überwiegend aufgehalten hat, haben. Für diese Personen, die als Ersatzfamilie fungierten, war es vermutlich die Normalität des Alltags, Alkohol zu trinken und gemeinsam Zeit abzuhängen.
Inzwischen hatte sich bei Bernd W. wohl so viel Hass aufgebaut, dass sich dieser gegen sich selbst oder andere entladen musste. Oft kommt kurz vor einer solchen Tat ein auslösendes Ereignis hinzu, was dann die emotionale Situation eskalieren lässt: Eine möglicherweise beiläufige neuerliche Ablehnung, Zurückweisung oder Kränkung. Was in diesem Fall konkret passiert ist, ist der Öffentlichkeit bislang nicht bekannt. Es handelt sich bei ihm vermutlich im Kern um ein Problem extremer Vereinsamung und emotionaler Verwahrlosung.
Warum in diesem Fall keine präventiven Hilfen oder Therapien vorhanden waren, lässt sich nicht ohne vertiefte Fallkenntnis beurteilen, zeigt aber auf einen Punkt, der heutzutage durchaus massenhaft vorhanden ist: Die Vereinsamung und emotionale Verwahrlosung von Jungen (selten Mädchen!), die schon als Kinder nicht ins Raster passen, durch ihre Andersartigkeit auffallen und deshalb im Laufe ihrer Entwicklung immer mehr abgelehnt werden. Und dies ist der Webfehler im Bildungs- und Hilfesystem! Es fehlt die Sensibilität für (verhaltensauffällige) Jungen in Not.
Es gibt Zehntausende einsame Männer in emotionaler Not
Gerade bei Männern gibt es viele Zehntausende, deren Lebensweg, wie beschrieben, mit Ausgrenzung, Stigmatisierung und Mobbing verläuft. Kindergärten und Schulen als Erziehungsinstanzen haben immer noch zu wenig Sensibilität für diese Prozesse, haben zu wenige männliche Fachkräfte in ihren Teams, die mit besonderer Empathie auf diese Probleme hinweisen und einwirken könnten. In der Folge entwickelt sich eine besondere, ungesehene Psychopathologie der Männer: Dreimal so viele Männer wie Frauen entwickeln eine Alkoholabhängigkeit, 75% aller Suizide werden von Männern begangen und mehr als 85% aller Straftäter und Wohnungslosen sind Männer. Aber diese Fakten passen nicht ins moderne feministisch geprägte Weltbild unserer Zeit, nach denen Männer toxisch sind und sich in Männerbünden aufschaukeln und ihre frauenfeindlichen Gewaltphantasien pflegen. Die Gesellschaft leistet sich den Luxus, diese Problemlagen weitgehend zu ignorieren oder diskriminierend umzudeuten.
Das frauendominierte Schul- und Bildungssystem muss sich den Jungen in Not öffnen
Oft wird argumentiert, dass es die rechtsradikalen männerbündischen Kontexte sind, die solcherlei Gewalttäter wie Bernd W. hervorbringen. Klar gibt es diese Männer in radikalen Bewegungen und in rechtsextremen Zirkeln. Diese – die einst den Faschismus in Deutschland begründeten – taugen aber nicht als Blaupause für die psychische Not der Mehrzahl der vereinsamten, isolierten Männer in unserer Gesellschaft. Gewaltprävention und Jungenarbeit könnten helfen, wenn sie erkennen würden, wo die wahren Probleme solcher heranwachsender Jungen sind. Neben der Förderung von Mädchen in Richtung Selbstwert und Selbstbehauptung braucht es viel mehr Hilfen für Jungen in psychischer Not.
Durch ihre Tendenz zur Externalisierung – Aggressivität, Hyperaktivität, unpassendes Sozialverhalten – machen sie sogar noch ostentativ auf sich aufmerksam. Aber was geschieht? So gut wie nichts! Vermutlich weil dies nicht in das identitätspolitische Weltbild des modernen Feminismus und Genderismus – Männer sind privilegiert und Täter, Frauen sind benachteiligt und Opfer – passt. Noch immer gibt es viel zu wenig jungenspezifische Prävention und Förderung ihrer psychischen Gesundheit.
Und wenn, dann besteht der Versuch oft darin, sie so machen zu wollen wie Mädchen. Dies wird dann als Gleichstellungspolitik für Jungen und Männer bezeichnet (siehe aktuell vor allem die Broschüre vom BMFSFJ zu Gleichstellungspolitik für Jungen und Männer in Deutschland), ist aber oft nichts Anderes als Gleichmacherei von Jungen und Mädchen, Männern und Frauen. In einem frauendominierten Schul- und Bildungssystem sowie Familiensystem ist dieser Ansatz keine Überraschung, aber klar der falsche Weg. Er verkennt die jungenspezifischen Bedürfnisse nach Auseinandersetzung und Wettbewerb auf der einen, aber auch Akzeptanz und Geliebtwerden auf der anderen Seite.
Die „Boy Crisis“ – eine ernste Bedrohung für die ganze Gesellschaft
Die von der deutschstämmigen Psychologin Emmy Werner (1929-2017) begründete Resilienzforschung hat schon vor Jahren gezeigt, dass die kontinuierliche liebevolle Zugewandtheit gegenüber verhaltensauffälligen Kindern starke positive und gesundheitsförderliche Erfolge bringt. Schon lange sprechen internationale psychologische Experten und Männerforscher von der „Boy Crisis“: Immer mehr Jungen versagen in Schule und Gesellschaft, flüchten in mediale Phantasiewelten und werden zu vereinsamten Problemfällen, die auch auf dem „Partnermarkt“ keine Chancen mehr haben.
Fazit: Jungen brauchen Unterstützung und Akzeptanz
Die in Trier geschehene Tat bleibt in ihrer Monstrosität unbegreiflich. Aber oft ist das Böse im Grunde banal. So ist es wohl auch die Entwicklungsgeschichte des Täters Bernd W. Die Tat kann nicht mehr ungeschehen machen. Viele Menschen sind gestorben, haben schwerstes Leid erfahren oder sind traumatisiert. Wenn es eine Lehre für die Zukunft geben kann, dann die: Jungen in Not brauchen frühzeitige Hilfen. Eben weil sie Jungen sind und in vielem anders sind als Mädchen.
Dass dies keine Toxizität und Pathologie bedeutet, sollte verstanden und akzeptiert werden. Schon längst sind Jungen die Verlierer des Bildungs- und Sozialsystems. Dies wahrzunehmen ist eine Aufgabe für die heutige Politik, die gewohnheitsmäßig in ganz andere Richtung schaut und die Benachteiligungen ausschließlich bei Mädchen wahrnimmt. Jungen und Mädchen brauchen für ein friedvolles und gelingendes Zusammenleben als Menschen die auf ihre Bedürfnisse abgestimmten Förder- und Hilfemaßnahmen. Manche Jungen bekommen die nötige Zuwendung jetzt schon durch kompetente Erzieher(innen) und Lehrer(innen). Was für ein Glück für diese Jungen! Viele brauchen es aber noch in der Zukunft. Und diese Zukunft ist jetzt!