Scham – Die Kernemotion der Sucht (Sucht und Emotionen #10)

Es gibt kein Gefühl, das für das Verständnis der Suchtkrankheit so zentral wichtig ist wie die Scham. Sowohl bei der Entstehung und noch mehr bei der Aufrechterhaltung der Sucht ist das Gefühl der Scham beteiligt. Bei Rückfällen nach einer Therapie und einer Phase der Abstinenz spielt das Schamgefühl, einen Fehler begangen zu haben und verloren zu sein, eine besonders schwerwiegende Rolle. Viele Betroffene haben ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrer Scham, spüren sie nicht, zu wenig oder zu spät, verdrängen sie und werden doch innerlich von ihr zerfressen.

Scham ist ein seltsam schwieriges, ambivalentes Gefühl. Die Emotionspsychologie ist sich darüber einig, dass die Scham zu den schwierigsten Gefühlen zählt, sowohl hinsichtlich der Entstehung als auch in Bezug auf die Bewältigung. Viele Menschen wissen gar nicht, dass es bei ihnen die Scham im Hintergrund sein kann, wenn sie sich komisch unnatürlich, nicht passend oder abgelehnt fühlen. Scham kann im Falle der Sucht zum exzessiven Substanzkonsum führen, aber auch zur Vereinsamung nach exzessivem Substanzkonsum. Scham kann als die Kernemotion bei Sucht betrachtet werden, weil sie bei jedem Betroffenen und bei den Angehörigen regelhaft mit im Spiel ist – ja aufgrund der Wesensart der Suchterkrankung sein muss.

Da die Scham ein sehr umfassendes, breites Gefühl darstellt, kann sie sich auf viele und im Einzelfall oft mehrere Bereiche des Lebens beziehen. Die Scham kann grundsätzlich an alle menschlichen Grundbedürfnisse, wenn diese nicht erfüllt werden, andocken: Zugehörigkeit, Anerkennung, Schutz und Sicherheit. Alle diese Grundbedürfnisse sind bei Suchtkranken oft nicht befriedigt, entweder als Ursache der Sucht oder als Konsequenzen der Erkrankung.

Schutz und Schaden durch Scham – die seltsame Ambivalenz des Schamgefühls

Wenn sich ein Mensch in der Öffentlichkeit betrinkt und nichts dabei findet, wird die Abwesenheit
seines Schamgefühls
beklagt. Falls andererseits eine Person als Kind sexuell missbraucht wurde und die damit verbundenen Gefühle nicht erträgt und bei Sexualität immer wieder Scham empfindet, erscheint dieses Schamgefühl passend und berechtigt. Scham kann insofern protektiv, aber auch schädigend sein. Die schützende Seite der Scham besteht darin, dass man sich nicht bloßstellt, Gruppen- oder Gesellschaftsnormen stark verletzt. Schamangst sorgt hier also für soziale Anpassung und Selbstkontrolle. Diese Funktion ist unter Subtanzintoxikation oft ausgeschaltet, so dass es zu peinlichen, grenzüberschreitenden Verhaltensweisen kommt, die der Einzelne später oft bereut. Das mit der Reue aufkommende Schuldgefühl kann aber ein Anlass für neuerlichen Substanzkonsum sein.
Manchmal brauchen wir den Schutz der Scham, um nicht Dinge zu tun, die uns hinterher leid tun
oder die uns sogar schädigen können. Wenn sich Menschen öffentlich psychisch entblößen, kann dies auf fehlendes Schamgefühl hindeuten. Bisweilen stellt uns vorhandene Scham aber auch bloß und macht uns einsam und verletzt und beschädigt uns in besonders schwerer Weise, wenn wir etwa glauben, durchschaut und ertappt worden zu sein. Ein unpassendes oder übermäßiges Schamgefühl kann eben auch schädigen und zur Vereinsamung führen. Dann handelt es sich um verletzende Scham.
Wenn es um Substanzkonsum geht, herrscht eine besonders starke Ambivalenz vor. Einerseits
dämpft die Substanzwirkung vorhandene Schamgefühle oder bringt sie völlig zum Verschwinden
(wie im Beispiel oben des Betrunkenseins in der Öffentlichkeit). Aber die Folgen des übermäßigen
Substanzkonsums und insbesondere der Sucht erzeugen auch wieder Schamgefühle
. Wenn etwa
ein suchtkranker Vater sein Kind im alkoholischen Zustand geschlagen hat, wird er sich später im nüchternen oder alkoholreduzierten Zustand dafür schämen, insbesondere wenn er mit den Folgen
seiner Tat konfrontiert wird.

Scham und Sucht: Der Teufelskreis aus Scham, Schuldgefühlen und noch mehr Scham

Besonders wenn dem Vater sein Verhalten vorgehalten wird oder er die schädlichen Folgen seines
Fehlverhaltens direkt erkennen kann (z.B. durch Verletzungen des Kindes), sorgt dies für berechtigte
Beschämung. Das dann in der Folge der Beschämung auftauchende Schuldgefühl kann so stark sein, dass eine innerliche Überflutung mit weiteren Schamgefühlen eintritt, was zu neuerlichem
Substanzkonsum führt. Der entstehende Teufelskreis aus Scham, Schuldgefühlen und noch mehr Scham kann auch immer wieder Anlass für Substanzkonsum sein.
Erst die proaktive
Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten und der Scham führen zu einer Auflösung.

Das Wesen der Scham

Scham fühlt sich subjektiv an wie eine unerwartete Bloßstellung, eine Nacktheit des Selbst mit allen Schwächen und Makeln. Scham ist für den Betroffenen wie eine unerwartete Bloßstellung. Der Andere kann tief in das Subjekt hineinschauen. Dieses fürchtet, als defizitär und minderwertig erkannt zu werden, vor allem wenn sie Vorerfahrungen damit hat oder spürt, Grund für Minderwertigkeitsgefühle zu haben. Die dominierende Befürchtung ist: Andere können die Schwachstellen des entblößten Selbst, meine innersten Schwächen, erkennen. Der bloßgestellte Mensch fühlt sich minderwertig, schutzlos vor Demütigungen und defizitär, bisweilen sogar nicht existenzberechtigt. Es ist so, als ob man den Blicken des anderen wie mit einem Brennglas ausgeliefert ist.

Scham wird anfangs in der Entwicklung des Kindes – wie Leon Wurmser herausgearbeitet hat – von strafenden oder abwerten Blicken des Beziehungsobjekts (meist der Mutter, später auch der Vater) ausgelöst. Selbst Kleinkinder können den emotionalen Hintergrund solcher Blicke dechiffrieren und codieren den Gehalt als abwertend und negierend, was ihr Selbst angeht. Dies führt oft zu einem problematischen Selbstwertgefühl (Selbstwertgefühl und Suchtprobleme. Hintergründe und Methoden zur Verbesserung mit den fünf wichtigsten Tipps), im Extrem zur Abwertung des eigenen Selbst. Wenn das Kind diese als Nicht-Akzeptanz und Abwertung empfundenen Blicke verinnerlicht hat, kann Scham auch von innen ausgelöst werden. Scham bedeutet dann, nicht so zu sein, wie man in den Augen des anderen (Mutter, Vater) sein sollte.

Negatives Schamerleben bedeutet Zurückweisung und Ablehnung

Scham wird dann zum Gefühlsäquivalent zu der Erfahrung von innerer oder äußerer Zurückweisung, Missachtung oder Ablehnung, die der Beschämte mehr und mehr als durch eigene Unfähigkeit, Unzulänglichkeit, Fehlerhaftigkeit oder gar Unerwünschtheit ausgelöst erlebt. Die Person erlebt diesen Zustand als ausweglos. Sie kann ihm nicht entrinnen, weil sie selbst keine Kontroll-, Alternativ- oder Ausweichmöglichkeiten sieht. Daher wird die beschämende Situation als unentrinnbar und allmächtig erlebt. Die gesamte Lebenssituation erzeugt dann ein tiefes Ohnmachtsempfinden. Im Falle einer Suchterkrankung erweisen sich Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle oft als auslösende Konsummotive (Ohnmachtsgefühle, Subtanzkonsum und Sucht (Sucht und Emotionen #8)).  

Akute Scham und Ur-Scham

Scham kann einen in einem unerwarteten Augenblick überfluten und dadurch lähmen. Dann handelt es sich um akute Scham, etwa wenn eine Person sich unbeabsichtigt nackt zeigt oder wenn ein Vortragender den Faden in seinem Referat verliert. Schwerwiegender ist die internalisierte Scham als Gefühl der Minderwertigkeit, Zwang zur Schüchternheit und Anlass, sich dauernd verstecken zu müssen. Sie wird, weil sie dem Einzelnen früh durch die Abwertung durch andere (insbesondere Eltern, enge Verwandte, Lehrer) beigebracht wurde, als Ur-Scham bezeichnet. Diese verinnerlichte Scham ist nahezu dauerhafter Anlass für negative selbstbezogene Gefühle. Sie kann aber auch Anlass für Substanzkonsum sein, der oft die einzige Möglichkeit darstellt, positive selbstbezogene Affekte zu erreichen. Diese halten jedoch nur so lange an, wie die Substanzwirkung vorhält, so dass immer wieder nachkonsumiert werden muss, wenn man nicht wieder in die negativen selbstbezogenen emotionalen Schleifen kommen will. 

Scham und Angst – eng verbunden, kaum entwirrbar

Das Schamgefühl ist neben der Angst der Affekt, der sich im Menschen am leichtesten generalisiert, am schnellsten innerlich ausbreitet und alle anderen psychosomatischen Funktionen überflutet Scham wird oft als „Schwester der Angst“ bezeichnet. Dies bedeutet, dass sie angstlösend oder angstverstärkend wirkt. Erwischt, ertappt oder sogar in der Schwäche und Peinlichkeit seines Äußeren oder – noch mehr – seines inneren Wesens erkannt zu werden, kann diese Angst auslösen. Viele nonverbale und verbale Hinweise können auf die zu befürchtende Peinlichkeit des Aussehens oder des Wesens eines Menschen hinweisen.

Die in der postmodernen Welt immer stärker gewordenen Normen hinsichtlich des Aussehens und der innersten eigenen Denkweisen verstärken die Angst, peinlich, also unpassend und nicht normgerecht, zu sein. Die Angst, andere mit sich zu beschämen, wenn man sich öffnet, ist der Treiber für ein Schamgefühl in Bezug auf das Innerste. Weil man in der Selbstbewertung so schlimm ist oder so schlimme Dinge tut, versteckt und verschließt man sich immer mehr.

Peinlichkeit ist dabei der soziale Spiegel der Scham, der anzeigt, wo Schamgefühle drohen. Taucht dann die Befürchtung auf, ertappt oder durchschaut zu werden, entsteht zunächst Angst, zu der sich auf Dauer noch Schuldgefühle gesellen können. Dies führt zum Verstecken der eigenen Meinung, der eigenen Impulse (gerade auf sexuellem Bereich) bis hin zum Abschotten der eigenen Person. Aus übertriebenen Ängsten vor Beschämung kann aber auch eine Schamlosigkeit als Abwehrmechanismus entstehen, um das befürchtete Schamgefühl gar nicht erst zu erleben. Daraus erwachsen moralische Gleichgültigkeit, Mangel an Mitgefühl mit anderen und sich selbst und letzten Endes völlige Abstumpfung und Gefühllosigkeit (Gleichgültigkeit – das seltsame Gefühl der Gefühllosigkeit (Sucht und Emotionen #3)).  

Übermäßige Scham beeinträchtigt das Selbstwertgefühl

Gravierend anders als andere zu sein (Dicksein, Kleinsein, Behindertsein, zu wenig Selbstwert haben), löst aufgrund der realen und befürchteten Reaktionen der Anderen oft starke Schamreaktionen bei Betroffenen aus. Da helfen auch keine plakativen Aktionen wie „Body Positivity“, weil diese niemals die Tiefenstrukturen von Wahrnehmung und Urteilsbildung sowohl der Betroffenen als auch der Allgemeinheit erreichen. Es entsteht schnell ein Teufelskreis aus Schamgefühlen, Ängsten und noch stärkeren negativen selbstbezogenen Kognitionen. Diese führen
zu einem niedrigen Selbstwertgefühl, aus dem es oft erst einmal kein Entrinnen gibt. Es gilt, diesen Teufelskreis so früh wie möglich mit positiven Selbsterfahrungen und Stärkung der Resilienz und Autonomiefähigkeit zu unterbrechen.

Merkmale der Scham

Der Einzelne bemerkt Scham auf verschiedenen Ebenen. Diese treten in der Regel kombiniert auf. 

  • Selbstbewertung: Scham beinhaltet oft eine negative Selbstbewertung, bei der man sich als unangemessen, unzulänglich oder minderwertig wahrnimmt. („Ich bin nicht okay“)
  • Sozialer Kontext: Scham ist in der Regel sozialer Natur und hängt mit der Wahrnehmung durch andere zusammen. Man fühlt sich bloßgestellt oder peinlich berührt. („Die anderen mögen mich nicht; Alle lehnen mich ab“)
  • Körperliche Reaktionen: Scham kann körperliche Reaktionen wie Erröten, Herzklopfen oder das Bedürfnis, sich zurückzuziehen, hervorrufen. („Ich möchte im Boden versinken“)
  • Schuldgefühle: Während Schuld sich auf spezifisches Verhalten bezieht („Ich habe etwas Schlechtes getan“), bezieht sich Scham oft auf das Selbst als Ganzes („Ich bin schlecht“). Dennoch kann sich diffuse Scham zu konkreter Schuld auswachsen („Ich habe schon wieder etwas falsch gemacht“)
  • Emotionale Belastung: Menschen mit starken Schamgefühlen, sind emotional sehr belastet („Ich fühle mich immer schlecht“), entwickeln häufig Depressionen und Substanzkonsumprobleme („Ich halte das nicht mehr aus“).

Scham kann verschiedene Formen annehmen und unterschiedlich intensiv erlebt werden. In ihrer milden Form kann sie als leichtes, oft hintergründiges Unbehagen auftreten, in ihrer extremen Form wächst sie zu einem tiefen, bohrenden Gefühl der Wertlosigkeit und der eigenen Falschheit heran, die im ganzen Inneren gespürt wird – emotional, physisch und kognitiv. Sie wird dann zu einem umfassenden Gefühl des Unpassend- und Falschseins. 

Scham und Sucht: Der Teufelskreis der Scham bei Sucht

„Warum trinkst du?“ fragte der kleine Prinz den Säufer. „Um zu vergessen“, antwortete der Säufer. „Um was zu vergessen?“ erkundigte sich der kleine Prinz. „Um zu vergessen, dass ich mich schäme“, gestand der Säufer. Weshalb schämst du dich?“ fragte der kleine Prinz. „Weil ich saufe“, endete der Säufer und verschloss sich endgültig in sein Schweigen. [Aus: „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupery]

Scham ist ein peinigendes, quälendes Gefühl. Um dies vor anderen zu verbergen, bedient man sich Schutzmechanismen, wie sich abzuwenden, den Blickkontakt zu vermeiden, eine Maske oder dunkle Brille zu tragen oder – einfach – alles zu verleugnen, obwohl es offenkundig ist (vgl. Sucht als Wahrnehmungs- und Denkstörung: Kognitive Abwehr und Verzerrungen bei Suchtstörungen). Mit einer Maske kann man sich andererseits scham- und damit auch tabuloser verhalten. Die Alkohol- und Drogenwirkung wirkt wie eine Maske zwischen dem Selbst und der Außenwelt. Nichts Relevantes dringt mehr nach außen, aber auch nichts mehr nach innen. Daraus entsteht ein weitgehend geschlossener Teufelskreis.

Viele Suchtkranke befinden sich in dem von Antoine de Saint-Exupery beschriebenen Teufelskreis aus Scham und Sucht. Scham kann eine wichtige soziale Funktion erfüllen, indem sie Menschen motiviert, sich an soziale Normen und Regeln zu halten. Sie kann dazu beitragen, soziale Bindungen zu stärken, indem sie Verhaltensweisen fördert, die im Einklang mit den Erwartungen der Gemeinschaft stehen. Sie kann aber auch zum Ausschluss aus sozialen Gruppen und der Gemeinschaft führen, wie es der Trinker in dem Buch „Der kleine Prinz“ empfindet. Gerade die gesellschaftlichen Reaktionen auf übermäßigen Substanzkonsum zeigen, dass die von den Betroffenen nach außen hin oft praktizierte Schamlosigkeit keine Lösung ist, weil sie ins gesellschaftliche Abseits führt. Viele Suchtkranke versuchen daher, ihren Konsum zu verstecken, etwa durch heimliches Trinken, wobei sie nicht realisieren, wie sehr ihr verändertes Verhalten in Folge des Konsums als unpassend wahrgenommen wird. 

Schamabwehr ist bei Sucht zentrales Motiv

Suchtkranke leisten – psychologisch betrachtet – Schwerstarbeit bei der Schamabwehr. Das innere Gefühl von Nicht-Stimmigkeit setzt ihnen immer mehr zu. Bei vielen schon vor dem Beginn des exzessiven Substanzkonsums. Dann liegt eine frühe psychische Problematik vor, die mit der Suchtmittelwirkung behandelt und verbessert werden soll. Dies gelingt natürlich nur kurzfristig. Die Scham wird durch die Substanzwirkung reduziert, egal ob diese sedierend oder stimulierend ist. Substanzkonsum ist das zentrale Mittel zur Erzielung emotionsdämpfender und -verdrängender Effekte. Wenn die Suchtkrankheit vorhanden ist, wird die Schamabwehr zur doppelten Aufgabe: Die primären Motive des Substanzkonsums bestehen nach wie vor. Zusätzlich müssen aber die schamerzeugenden Folgen der Sucht (Vernachlässigung von Familie und Arbeit; Leistungsabfall; soziale Isolation usw.) abgewehrt und verdrängt werden. 

Auf Dauer lassen sich die vorhandenen Probleme aber immer schlechter unterdrücken und es entstehen durch den exzessiven Substanzkonsum mehr neue Folgeprobleme. Kontinuierlicher Substanzkonsum wird dann zum Mittel, um die Folgen des vorausgehenden Substanzkonsums zu reduzieren, insbesondere wenn es um die physiologischen Symptome der Sucht (Toleranz, Entzug) oder die mentalen Folgeprobleme (Depressivität, Selbstwertverlust) geht. Es entsteht der nur noch durch Unterbrechung des süchtigen Verhaltens auflösbare Teufelskreis der Sucht. 

Sucht führt auf Dauer zu sozialer Isolation und Einsamkeit

Suchtverhalten bedeutet im Wesentlichen, die Kontrolle über sein Verhalten – und damit sein Leben – verloren zu haben. Dies kann nur ohne Schamgefühl auf Dauer ertragen werden. Die dann entstehende Schamlosigkeit im Verhältnis zu sich selbst führt zu Persönlichkeits- und Werteverfall. Denn nur wer sich selbst achtet, kann sich auch in passender Weise schämen. Die wiederholte Verletzung sozialer Rollen und Normen – wenn die notwendige Scham nicht empfunden wird oder keine Rolle mehr spielt – hat in der Regel den sozialen Ausschluss und die Isolation in Subkulturen zur Folge. Die subkulturelle Szene des Drogenkonsums ist eine solche Folge. Für Betroffene bietet sie Schutz und Sicherheit, aus ihr wieder zu entkommen erweist aber als sehr schwierig.

Schamlosigkeit ist also keine dauerhaft tragfähige, gesunde Lösung. Beide Funktionen – Scham zur Orientierung an sozialen Rollen wie auch soziale Ächtung wegen Schamlosigkeit – sind bei übermäßigem Substanzkonsum und Suchtstörungen besonders beeinträchtigt. Dies wiederum führt zu Vereinsamung und Isolation (Einsamkeit und Sucht: Einsame Menschen mit Suchterkrankung – Suchtkranke mit Einsamkeitsproblemen), was neuerliche Scham auslösen kann, wie die Episode des Trinkers aus dem „kleinen Prinzen“ zeigt. Übermäßige oder chronische Scham droht, starke negative Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden zu haben und das Selbstwertgefühl dauerhaft zu untergraben, was zum neuerlichen Konsum- oder Rückfallgrund werden kann (Rückfall: 10 Tipps für richtiges Verhalten vor und danach).

Sucht und Scham – Zwei Seiten einer Medaille?

Wieso hängen Sucht und Scham so eng zusammen? Zum einen können chronische Schamgefühle – aus Kindheit und Jugend oder nach einem Trauma – exzessiven Substanzkonsum oder exzessive Verhaltensweisen als Versuche der Bewältigung dieses Gefühls auslösen. Sie bleiben jedoch nur kurzfristig wirksam und bilden nur oberflächlich wirksame Selbstheilungsversuche. Substanzkonsum ist dann ein Reduktionsmittel für übermäßige, subjektiv nicht mehr auszuhaltende Schamgefühle, die im Kern dem schamauslösenden Objekt und dessen Spuren im eigenen Selbst gelten. Dauerhaft lässt sich Scham nur durch proaktive Bewältigung und Veränderung des Selbst bewältigen. Dazu bedarf es neuer kognitiver Muster, anderer Verhaltensweisen und am Ende auch positiver selbstbezogener Emotionen vor dem Hintergrund gelöster Schamkonflikte.

Für den Suchtkranken entwickelt sich ein zusätzliches Dilemma: Der Suchtkranke trinkt, weil er sich schämt. Aber seine Sucht erzeugt auch Scham. Daher sollte das Scham-Dilemma in jeder Suchttherapie angegangen und gelöst werden. Auch wenn es anfangs oft nicht erkannt wird, stellt die Scham einen wichtigen Begleiter von Suchtkranken und ihren Angehörigen dar. Bei der Entstehung der Krankheit, der Aufrechterhaltung und auch bei der finalen Bewältigung und bei auftretenden Rückfällen spielt Scham eine wichtige, oft zentrale Rolle. Scham bei Suchtkranken ist dazu da, bearbeitet und gelöst zu werden.

Hilfreiche Funktionen der Scham

Scham ist ein hochgradig ambivalentes Gefühl, das dem Suchtkranken ebenso nützen wie schaden kann. Sie kann also protektiv und destruktiv wirken. Scham kann durchaus zur Motivationsgewinnung und -steigerung bei Sucht in Richtung Veränderung und Therapie beitragen. Sie steht in enger Verbindung mit dem Erleben des individuellen Tiefpunkts. Wenn ein Suchtkranker etwa von seinem Kind hört: „Papa, Du stinkst aus dem Mund“ oder „Der Nachbar hilft mir viel besser bei den Hausaufgaben als Du“, kann dies den Vater tief treffen und ihn beschämen. Beschämen bedeutet dann, dass sein Sohn ihn mit wachen Sinnen beobachtet und dass ihn sein Emotionssystem zu der Erkenntnis führen will: So, wie Du Dich verhältst, ist es nicht richtig. Du vernachlässigst Dein Kind.

Daraus kann die Schlussfolgerung gezogen werden: Verändere Dich! Selbst wenn der Suchtkranke darauf Tausendmal nicht reagiert und sein Schamgefühl mit Alkohol oder Drogen betäubt hat, kann es beim 1001. Mal anders sein. Eine andere Intonation des Kindes, ein anderer Blick oder eine andere Stimmung und es macht Klick und das Erlebte wirkt im Sinne eines starken Veränderungsimpulses. Vorhersagen lässt er sich nicht, erhoffen (vgl. Die 8F der Suchttherapie – Veränderung beginnt mit F!) kann man ihn. Gerade Blicke, wie schon beschrieben, spielen bei der Auslösung starker Schamgefühle oft eine entscheidende Rolle. Wenn sie den Impuls zu einer Veränderung auslösen, haben sie eine hilfreiche Wirkung. 

Gewissensscham – Bürde und Hilfe für Suchtkranke

Gewissensscham bezeichnet das Schamgefühl, das nach der Verletzung einer moralischen Norm (z.B. Betrug des Partners, Diebstahl, Verletzung von Regeln im Straßenverkehr) entstehen kann. Es kann sich bei Sucht auch auf Rückfälligkeit bezieht. Gewissensscham tritt dann stark auf, wenn Verhalten und Erleben im Widerspruch zu den eigenen Ansprüchen und Idealen stehen. Wenn eine suchtkranke Person genau weiß, wie sehr sie mit ihrem Verhalten Partner und Kinder schädigt, und dennoch konsumiert, tritt viel Gewissensscham auf, die dann mit noch stärkerem Konsum „ertränkt“ oder betäubt werden muss. Gewissen als moralische Kontrollinstanz ist flexibel, so dass bei wiederholter Regelverletzung die Gewissensscham abnimmt, sich anpasst und sich ein Gewöhnungseffekt einstellt. Man kann durchaus von der Alkohollöslichkeit der Gewissensscham sprechen.

Die Gewissensscham verliert bei chronisch Suchtkranken oft ihre Bedeutung und kann erst im Zuge der Abstinenz wieder aufgebaut werden. Sie wird durch jahrelanges Lügen und Täuschen (Sind Suchtkranke Lügner? – Einsichten und Hilfsmöglichkeiten für Betroffene und Angehörige) nachhaltig geschädigt. Daher ist die Falschheitsscham mit der Gewissensscham eng verwandt. Sie zeigt sich in einem tiefen inneren Gefühl, dass man falsch und schlecht ist, weil man bewusst oder faktisch unlauter gehandelt hat. Sie bezieht sich besonders auf Lügen, Täuschen und Verstellen als Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit Suchtverhalten im Umgang mit Angehörigen und dem gesamten Umfeld oft auftauchen. Im Extremfall bezieht sich die Falschheitsscham darauf, dass man nicht nur falsche Handlungen begangen hat, sondern dass man als Person falsch ist. Dies führt zu starker Selbstabwertung und ichbezogener Negativität.

Scham und Sucht: Lösungen und Hilfen

Der Umgang mit der Emotion Scham und ihre Bewältigung, wenn sie zu quälend wird oder Überhand nimmt, ist eine der schwierigsten Anforderungen im Bereich der Emotionsbewältigung. Dies gilt für Suchtkranke und ihre Angehörigen ganz besonders. Während Suchtkranke ihre Schamgefühle mit Substanzkonsum manipulieren können, sind Angehörige diesen belastenden Emotionen besonders hart ausgeliefert. Am Ende braucht es eine offene und wahrhaftige Bewältigung der Scham des Suchtkranken, sei es die Ur-Scham, die er in Kindheit und Ursprungsfamilie erwerben musste, sei es die Scham infolge seiner konflikt- und lösungsvermeidenden, dafür aber fremd- und selbstschädigenden Lebensführung. Oft geht es auch um Verzeihen und Vergeben, worum der Suchtkranke seine Angehörigen bitten muss, aber auch Verzeihen und Vergeben sich selbst gegenüber, wenn es sich um übermäßige Härte, Selbstabwertung und Perfektionismus handelt.

Bei einer suchttherapeutischen Behandlung ist es auf jeden Fall unerlässlich, die Schamprobleme zu bearbeiten. Als Erstes sollte die Bereitschaft geweckt werden, sich seiner Schamgefühle zu stellen. Ängste vor Schamüberflutung sollten abgebaut werden. Der Suchtkranke soll sich nicht wegen seiner Erkrankung schämen, sondern die Wurzeln seines Schamgefühls genau verstehen. Bezieht sich dieses darauf, dass er – vor allem in seiner Kindheit und Jugend – als Person abgewertet, ausgeschlossen oder entwertet wurde, ist es wichtig, Selbstwertgefühl und Selbstakzeptanz aufzubauen. Die Geschichte der eigenen Scham zu verstehen und sie am Ende zu bewältigen und gute, schützende Scham für sich einzusetzen, ist das Ziel. Meistens sind die von außen implantierten Schambotschaften solche, die sich auf falsche, nicht akzeptable Seiten des Selbst beziehen. Am Ende bedarf es eines realistischen Selbstbildes, Kritik- und Gütefähigkeit sich selbst gegenüber. 

Am besten gelingt die Bearbeitung quälender Schamprobleme in einer Psychotherapie. Aber auch Suchtselbsthilfegruppen und die Seelsorge bieten Möglichkeiten.