Rückfälligkeit gehört zum Verhaltensablauf bei allen chronischen Erkrankungen. Ob es der Diabetiker ist, der seine Ernährungs- und Bewegungsregeln nicht einhält, oder der Depressive, der sich wieder dem negativen Denken hingibt, immer wieder sind diese Prozesse des Rückfalls in alte Gewohnheiten beobachtbar. Bei Suchterkrankungen spielt der Rückfall eine noch stärker akzentuierte Rolle. Ein Grund dafür kann sein, dass hier Rückfälle im wahrsten Sinne des Wortes toxischer ablaufen. Es entstehen bei der klassischsten aller Suchterkrankungen, der Alkoholsucht, stärkere Intoxikationen und damit dramatischere Abläufe und Konsequenzen, bisweilen mit Unfällen und Todesfällen. Es kann also bei Alkohol- und Drogensucht zu besonders dramatischen Rückfallverläufen kommen, im Englischen „full blown relapse“ genannt.
Inhaltsübersicht
Das Tabuthema „Rückfälligkeit“
Lange Zeit war das Thema „Rückfall“ bzw. „Rückfälligkeit“ in der Suchttherapie hochgradig tabuisiert. Was heute kaum mehr bekannt ist: Das Ansprechen eines künftigen Rückfalls galt in der Suchtbehandlung bis zu Beginn der 1990-er Jahre als Fehler, könnte es doch dem Suchtkranken unbewusst die Option eines Rückfalls erlauben. Diese Tabuisierung der Rückfälligkeit war nur eines von vielen Symptomen für übermäßige Mythen in der Suchttherapie, die ohne empirische Evidenz blühten und bei anderen Themen auch heute immer noch blühen. Erst die bahnbrechenden Arbeiten zur Rückfallforschung von Prof. Alan Marlatt (Seattle, WA, USA) ab den späten 1970-er Jahren und von Prof. Joachim Körkel (Nürnberg) ab den späten 1980-er Jahren haben die Vorbehalte und Widerstände gegen Rückfallprävention und Rückfalltherapie abgebaut. Heute überwiegt ein differenziertes Vorgehen bei Rückfällen während einer Suchtbehandlung. Aber noch immer gibt es Relikte des pauschalen hypermoralischen Verurteilungsdenkens, wenn Suchtkranke rückfällig werden.
Der Rückfall und die Bedeutung von Rückfälligkeit
In einem differentiellen motivationspsychologischen Denken ist Rückfälligkeit (Risikoverhalten, Craving, Vorfall, Fall und Rückfall) Ausdruck motivationaler Ambivalenz und verhaltenspsychologischer Kompetenzprobleme. Fachkräfte in der Suchtbehandlung sollten das Rückfallgeschehen (Prävention, Beendigung und Bewältigung eines Rückfalls) zum regelhaften Bestandteil jeder Suchtbehandlung machen. Die häufigsten Rückfallauslöser – nach dem klassischen Modell von Marlatt – sind unbewältigte Emotionen und sozialer Druck zum Konsumieren. Im deutschen Sprachbereich haben sich das „Strukturierte Rückfallpräventionsprogramm STAR“ (Körkel & Schindler, 2003) sowie „Rückfallprophylaxe bei Drogenabhängigkeit: Ein Trainingsprogramm“ (Klos & Görgen, 2020) besonders durchgesetzt.
Die Studien dieser Forscher führten zu der Sichtweise, dass der Rückfall zum Veränderungsprozess bei Suchtkranken gehört. Er ist die Regel und nicht die Ausnahme. Durch Analyse der Rückfallsituationen kann die Therapie auf die noch nicht gelösten inneren und äußeren Konflikte des Suchtkranken gelenkt und so entscheidend optimiert werden. Im Einzelnen geht es darum, dass sich der Suchtkranke bei auftretendem Verlangen (Craving) besser steuern und einen Rückfall vermeiden kann.
10 Tipps zum besseren Umgang mit Rückfälligkeit
Im Folgenden werden anhand von 10 Tipps Hinweise für einen besseren Umgang mit Rückfällen und Rückfallgefährdungen gegeben. Wenn Sie selbst betroffenen sind, üben Sie diese Hinweise nach und nach ein, um mehr Sicherheit für Ihre Abstinenz zu erlangen.
1. Rückfälle mit Bewältigung überschreiben!
Wenn Sie rückfällig geworden sind, kehren Sie an den Ort Ihres Rückfalls zurück! Machen Sie sich vorher klar, dass Sie das Rückfallereignis jetzt bewusst bewältigen wollen. Machen Sie sich klar, dass Sie den Rückfall durch eine bewusste Handlung überschreiben werden. Wenn Sie in einer Kneipe rückfällig wurden, bestellen Sie sich dort einen Kaffee oder ein Wasser und konsumieren Sie das Getränk langsam und bewusst.
2. Rückfall: Sorgen Sie für Klarheit im Kopf!
Denn Rückfälle beginnen im Kopf. Daher sind Ihr Denken und Ihre Wahrnehmung von entscheidender Bedeutung. Aber die meisten rückfallanbahnenden Prozesse geschehen unbewusst, vorbewusst oder werden blitzschnell abgewehrt („verdrängt“ heißt das in der Alltagssprache). Machen Sie also eine genaue Analyse Ihrer Gedanken, auch derer, die Sie lieber nicht haben wollen!
3. Fahren Sie Ihre Abwehr gegen Selbstbetrug herunter!
Mit der aktiven Sucht ist es wie mit einem Boxer, der seine Abwehr – seine Fäuste – schützend, aber auch abwehrend vor sein Gesicht hält. Nichts kommt an ihn heran, nichts dringt nach außen. In so einem Zustand ist die Rückfallgefahr besonders hoch. Eine ähnliche Metapher ist das Bild mit einem undurchlässigen Zaun. Es gibt keine Lücke im Zaun. Nichts dringt nach außen, nichts nach innen. Erst wenn sich eine Lücke im Zaun bildet, kann ein Austausch mit der Umwelt beginnen. Kognitive Durchlässigkeit ist eine wichtige Voraussetzung gegen Selbstbetrug. So kann über Scham, negative Gefühle, Lebensziele und die Rolle des Suchtmittels gesprochen werden. Wenn sich ein süchtiger Mensch dann von seinem Umfeld verstanden und akzeptiert fühlt, kann sich die Lücke im Zaun mehr und mehr öffnen.
4. Teilen Sie Ihre Rückfallerfahrung!
Machen Sie aus Ihrem Rückfall kein Geheimnis! Denn darin läge der Keim für den nächsten Rückfall. Geheimnistuerei, Tabuisierung und Abwehr sind die Vorreiter des kommenden Rückfalls. Sprechen Sie mit einer Person Ihres Vertrauens, etwa aus der Suchtselbsthilfegruppe, der Familie oder anonym der Telefonseelsorge (0800-1110111 oder 0800-1110222). Natürlich auch – falls vorhanden – mit ihrem Suchtberater oder -therapeuten.
5. Klären Sie sich und Ihre Ziele!
Gehen Sie tiefer in sich! Klären Sie, welche Ziele Sie für sich anstreben und was Sie mit der Abstinenz erreichen wollen! Wenn Sie den Wert der Abstinenz dem eines neuerlichen Konsums gegenüberstellen, zu welchem Ergebnis kommen Sie dann? Wie kann Abstinenz für Sie tagtäglich noch wertvoller werden? Sie können dabei an Ihre Familie, Ihre Gesundheit, Ihre Arbeit und auch an Ihr Wohlbefinden denken. Wählen Sie die persönlichen Drei-Top-Ziele aus und denken Sie jeden Tag an diese! Machen Sie auch regelmäßig eine Bilanz Ihrer Zielerreichung im Sinne einer Ist-Soll-Analyse. Sie können sich auch Erinnerungsbrücken für Ihre Zielerreichung bilden, z.B. ein Fotos Ihres Kindes als Hintergrundbild in Ihrem Smartphone. Je öfter Sie an Ihre Top-3-Themen denken, desto besser kann sich Ihr Abstinenzwillen festigen.
6. Verlangsamen Sie Ihr Lebenstempo!
Wenn Sie weiter bzw. wieder abstinent leben wollen, was eine sehr gute Idee sein kann, gehen Sie achtsam und behutsam mit sich und der persönlichen Suchtproblematik um! Dabei können Achtsamkeit, Bewusstheit und Verlangsamung wichtige Strategien sein. Je balancierter Ihr Leben verläuft, desto besser ist es für Ihr Wohlbefinden und Ihre psychische Gesundheit, damit Sie sich nicht unbewusst mit Substanzkonsum belohnen. Ein unausgeglichener Lebensstil kann zu unerwünschten Ausgleichreaktionen mit Substanzkonsum führen, mit denen Sie sich unbewusst belohnen wollen. Achten Sie auf eine gute tägliche Balance in Ihrem Leben! Diese kann in Anforderung und Aufgaben einerseits und Entspannung und Auszeiten andererseits bestehen. Achten Sie immer wieder darauf, dass Ihr Alltag ausgeglichen ist! Hoffen Sie nicht darauf, dass sich in Zukunft schon alles von alleine richten wird! Wichtig ist auch, dass Sie über andere Selbstbelohnungsmöglichkeiten als Substanzkonsum verfügen. Sie sollten über ein Repertoire an alternativen Möglichkeiten für Selbstbelohnung (Genuss, Sport, soziale Interaktionen, Muße) im Alltag verfügen.
7. Verändern Sie sich langfristig so, dass das Rückfälligwerden überflüssig wird!
Lernen Sie Ihre persönlichen Auslöser für Suchtverlangen (Craving) und Rückfälligkeit kennen! Schauen Sie sich diese genau an, benennen Sie Ihre drei häufigsten Auslöser und bearbeiten Sie diese so, dass Sie eine bessere Kontrolle darüber erlangen. Dies kann etwa in einem verbesserten Umgang mit negativen Gefühlen und einer besseren Kontrolle sozialer Verführungssituationen bestehen. Sorgen Sie für ein Übermaß an Wohlbefinden! Sie sollten wenigstens so viele positiven Gedanken und Gefühle aktivieren, dass diese die negativen überwiegen.
8. Reflektieren Sie sich kritisch!
Machen Sie eine gründliche Inventur Ihres Inneren! Was sind Ihre verborgenen Motive zum Substanzkonsum? Wie überlistet das Verlangen ihr Bewusstsein? Seien Sie dem Rückfall immer einen Schritt voraus, indem Sie schon wissen, wie ein unbewusster Rückfall passieren könnte. Stellen Sie sich vor, Sie liegen auf der Couch Ihres imaginären Psychotherapeuten (der am besten Sie selbst sind) und Sie erzählen ihm alles, was Ihnen zu den unbewussten Motiven für einen Substanzkonsum in den Sinn kommt. So können Sie die Kontrolle auch über Ihre unbewussten Motive verbessern.
9. Lernen Sie Ihre Risikosituationen kennen
Lernen Sie Ihre Risikosituationen zum Rückfall genau kennen und trainieren Sie den erfolgreichen Umgang mit diesen Situationen! Probleme im Umgang mit negativen Emotionen sind der häufigste Auslöser von Rückfällen. Dazu gehören: Wut, Zorn, Trauer, Einsamkeit, Neid, Angst uvm. Lernen Sie die Auslöser für solche Emotionen kennen und dann mit ihnen umzugehen, diese zu steuern und zu kontrollieren. Das geht nicht immer, aber sehr oft. Wenn Sie sich oft einsam und unverbunden fühlen, kann dies immer wieder ein Auslöser für Rückfälligkeit darstellen. Zur Überwindung von Einsamkeit ist es wichtig, dass Sie den ersten Schritt tun. Gespräche mit anderen Personen können bei der Emotionskontrolle und der Bewältigung negativer Emotionen sehr helfen.
Der zweithäufigste Auslöser von Rückfällen sind soziale Aufforderungs- und Verführungssituationen. Bereiten Sie sich darauf vor, dass andere Personen Sie zum Mittrinken und zum Konsumieren animieren. Stärken Sie Ihre Abwehrkräfte gegen soziale Verführung! Sie haben das Recht, nein zu sagen, wann immer und sooft Sie wollen. Sie sollten sich im Vorhinein klare Reaktionen im Kopf bereitlegen, wie z.B. „Ich muss noch Autofahren“, „Ich trinke aus gesundheitlichen Gründen nicht“, „Ich nehme Medikamente“ oder ganz einfach „Nein danke. Ich mag nicht“.
10. Sorgen Sie mit positiven Gedanken und guten Handlungen für positive Gefühle!
Positive Emotionen können Sie vor Rückfälligkeit schützen, wenn diese nichts mit dem Substanzkonsum zu tun haben, sondern mit einer Lebensführung ohne Alkohol und Drogen. Positivität ohne Realitätsverlust ist eine wichtige Ressource. Sorgen Sie nach einem Rückfall durch neue Anstrengung immer wieder für realistische Positivität.
Schluss: Abschließend die 10 Tipps in komprimierter Übersicht: (1) Nachträgliche Bewältigung, (2) kognitive Kontrolle, (3) kognitive Durchlässigkeit, (4) Offenheit, (5) Zielklärung, (6) Balancierte Lebensführung, (7) Auslöser für Verlangen, (8) innere Inventur, (9) Emotionsregulation und (10) Realistische Positivität.
Leitsatz: Der offene und konstruktive Umgang mit Rückfälligkeit und Rückfällen ist ein entscheidender Meilenstein zur Bewältigung einer Suchterkrankung. Es ist wichtiger, einmal mehr aufzustehen als hinzufallen.
Guten Tag,
Ich bin Suchtkrank und seit 25 Jahren clean nachdem ich über 20 Jahre Medikamentenabhängig war.
Zu Beginn meiner Abstinenz war mir klar das ich zuerst um den Rückfall kümmern muss. Eine Therapie war wegen meiner Selbstständigkeit nicht möglich. Alle Wege in die Abstinenz habe ich mit einer Selbsthilfegruppe erreicht.
Der wichtigste Satz für mich ist “Der Rückfall ist die Normalität”. In diesen Worten steckt alles. Erst wenn dieser Satz keine Angst mehr erzeugt kann ich eine zufriedene Abstinenz erreichen.
In der Folgezeit habe ich in der Selbsthilfe sicher 100 Seminare zu dem Thema gehalten. Ich habe auch Widerstände in dem Selbsthilfeverband erlebt. Die Resonanz der Gruppen hat mir jedoch Recht gegeben.
Dies nur als Anmerkung zu Ihren Ausführungen die ich nur Unterschreiben kann.
Weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Arbeit.
Weigel Jürgen
Ignaz-Reder-Str. 18
97638 Mellrichstadt
T 09776-8220
Lieber Herr Weigel,
Danke für Ihre Anmerkungen, die mir imponieren und gefallen.
Herzliche Grüße
Michael Klein