Dass bestimmte Persönlichkeitszüge Suchterkrankungen herbeiführen oder zumindest begünstigen können, ist eine Vorstellung, die in der Populärpsychologie schon lange besteht. Demnach herrscht die Idee vor, dass eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur für Sucht prädestiniert. Besonders Sigmund Freud hat in seinen Überlegungen zum oralen Charakter diese Vorstellung popularisiert. Die Idee dabei war, dass das exzessive und aus der Erwachsenenperspektive scheinbar unverständliche Verhalten des „an der Flasche Hängen“ nur durch eine Fixierung auf ungestillte frühkindliche Bedürfnisse und deren Frustration erklärbar sei.
So galt denn der „orale Charakter“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weithin als die „Suchtpersönlichkeit“. Bei der oralen Stufe handelt es sich um die früheste Stufe der psychosexuellen Entwicklung des Menschen (Geburt bis 2 Jahre). Die Suchtkranken sollten auf diese Phase durch die Frustration wichtiger Befriedigungen fixiert sein und sich mit Alkohol eine Ersatzbefriedigung suchen. Die Forschung des frühen 20. Jahrhunderts zeigte dann wiederholt, dass diese Erklärung nur für einen kleinen Teil aller Suchtkranken zutreffend ist, während die meisten Suchtkranken heterogene Persönlichkeitsmuster zeigten. Damit war die persönlichkeitsorientierte Suchtforschung für Jahre diskreditiert. Manche Autoren schrieben dann sogar: Suchtkranke zeigen genau die gleichen Persönlichkeitseigenschaften wie andere Menschen auch, nur mehr oder weniger davon. Dies hätte dann aber bedeutet, dass Persönlichkeitsmerkmale und Sucht in keiner systematischen Weise zusammenhängen.
Inhaltsübersicht
Die jüngere Suchtforschung zeigt differentielle Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit und Sucht
Die Forschung, die seit 1970 zum Thema Sucht und Persönlichkeit initiiert wurde, hat gezeigt, dass es in der Tat für spätere Suchterkrankungen empfängliche Persönlichkeitskonstellationen gibt. Diese werden dann als vulnerable Persönlichkeiten bezeichnet. Die Lösung des von der frühen Psychoanalyse postulierten eindimensionalen Risikomodells war, dass es mehrere prädisponierende Persönlichkeitskonstellationen gibt. Differentielle Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit und Suchtentwicklung bedeutet mithin, dass verschiedene Ausgangsbedingungen zu einer Suchtstörungen führen können.
Das Zwei-Faktoren-Modell zu Persönlichkeit und Alkoholabhängigkeit (Cloninger)
Es gab in der Folge verschiedene, empirisch hergeleitete Modelle, welche Persönlichkeitseigenschaften oder – gröber – Persönlichkeitsfaktoren für die Entwicklung von Suchtverhalten riskant sind. Ein besonders bekanntes Modell ist das von dem amerikanischen Neuropsychiater C. R. Cloninger im Jahr 1987 entwickelte Zwei-Faktoren-Modell der Persönlichkeit in Bezug auf Alkoholabhängigkeit. Es unterscheidet zwischen zwei Haupttypen. Typ-I ist durch größeren Einfluss von Umweltfaktoren (wie z.B. Partner- und Arbeitsplatzprobleme) und einem späten Beginn der Suchtkrankheit nach dem 25. Lebensjahr gekennzeichnet. Die Häufigkeit des Typs-I ist bei Männern nur geringfügig höher als bei Frauen. Der Typ I zeigt grundsätzlich einen eher milden Verlauf mit vorwiegend psychischer Abhängigkeit (Alkohol als alltäglicher Problemlöser, Unfähigkeit zur Abstinenz). Die Betroffenen leiden unter starken Schuld- und Versagensgefühlen im Alltag, haben ein geringes Selbstwertgefühl und viele Alltagsängste.
Der Typ-II-Alkoholiker ist stärker von erblichen, hereditären Faktoren bestimmt und durch einen frühen Beginn (vor dem 25. Lebensjahr) der Suchtkrankheit charakterisiert. Männer machen den größten Anteil der Typ-II-Alkoholiker nach Cloninger aus. Typisch sind ein stark ausgeprägtes Alkoholverlangen, gepaart mit asozialen Persönlichkeitseigenschaften und Aggressionsdurchbrüchen.
Neuere Modelle zu Persönlichkeits-Sucht-Konstellationen
In zahlreichen Folgestudien, insbesondere mit dem US-amerikanischen Persönlichkeitsdiagnostikum MMPI und MMPI-2, konnten bestimmte Profile ermittelt werden, die bei Suchtkranken immer wieder zu finden sind. Dabei blieb oft unklar, ob diese im Vorfeld der Suchterkrankung bestanden („präalkoholische Persönlichkeit“) oder im Verlauf der Suchtentwicklung entstanden oder sich verschärften („klinische Alkoholikerpersönlichkeit“). Die Persönlichkeitstypen, die regelmäßig in empirischen Studien festgestellt werden konnten, waren:
Typ 1: Der neurotisch-ängstliche Typ. Dieser umfasst etwa ein Drittel der Gesamtgruppe aller Suchtkranken, weist deutliche Züge von Ich-Schwäche, negativem Selbstbild, Angst und Depressivität auf (vgl. „Männerdepression und Suchtstörungen“). Dieser Typus enthält mehr Frauen als in der Gesamtgruppe der Suchtkranken zu finden sind. Er wird als die Gruppe der ängstlich-angespannten Personen interpretiert, die Substanzen zur Verbesserung bzw. Linderung ihrer Befindlichkeit einsetzen. Häufig konsumieren sie alleine und – wenn sie in Beziehungen leben – heimlich.
Typ 2: Der antisoziale-aggressive Typ. Auch diese Gruppe umfasst etwa ein Drittel aller Suchtkranken, ganz überwiegend Männer. Sie sind sozial unverträglich und zeigen eine wenig differenzierte Emotionalität, sind leicht provozierbar, impulsiv und neigen zu exzessiven Trinkmengen mit schweren Intoxikationen.
Typ 3: Der unauffällig-normale Typ. Diese letzte Gruppe, die etwa ein Drittel der Suchtkranken umfasst, weist keine persönlichkeitspsychologischen Auffälligkeiten auf. Ihr Substanzkonsumverhalten steht nicht in funktionaler Beziehung zu ihrer Persönlichkeit und erfüllt andere Zwecke, vor allem soziale Zugehörigkeit, Förderung der Geselligkeit und Stressreduktion.
Die besondere Rolle von Persönlichkeitsstörungen
Darüber hinaus stellt sich immer wieder heraus, dass extreme Formen von Persönlichkeitsmerkmalen, die sogenannten Persönlichkeitsstörungen, eng mit Suchtverhalten zusammenhängen. Dies betrifft vor allem die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), die mit starker emotionaler Instabilität und hoher Impulsivität zusammenhängt, die Antisoziale-Persönlichkeitsstörung (APS), die Narzisstische-Persönlichkeitsstörung (NPS) und die ängstlich-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (ÄPS). Diese Diagnosen sind aber letzten Endes als Extremformen des Typs-1 (BPS, ÄPS) und des Typs-2 (APS, NPS) anzusehen. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass bei Typ-1 und Typ-2-Suchtkranken gehäuft auch Personen mit den entsprechenden Persönlichkeitsstörungen aufzufinden sind. Persönlichkeitsstörungen sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie lebensgeschichtlich früh beginnen, sehr veränderungsresistent sind, zu starken Beziehungsproblemen führen, bei den Betroffenen wenig Problemeinsicht besteht und dass die Betroffenen in ihrem Verhalten sehr unflexibel und rigide sind.
Ursache, Begleitumstand oder Folge
Es ist eine klassische Frage der persönlichkeitspsychologischen Suchtforschung, ob die vulnerablen Persönlichkeitsmerkmale – wie Ängstlichkeit, Ich-Schwäche oder Antisozialität – Ursachen, Begleitumstände oder Folgen einer Suchtstörung sind.
Im Einzelnen liegt genügend Evidenz dafür vor, dass die Persönlichkeitstypen 1 und 2 in einem überzufälligen Zusammenhang mit Substanzkonsumproblemen stehen. Sie erhöhen also das Risiko für problematischen Substanzkonsum. Im Hintergrund ist die Funktionalität, die Suche nach den Substanzwirkungen, dafür verantwortlich, dass im individuellen Kontext Substanzen konsumiert werden. Dieser, meist unbewusst, ablaufende Prozess bedeutet, dass die stress-, angst- und depressionsreduzierende Wirkung ebenso wie stimulierende, geselligkeitssteigernde bis zu den aggressionsenthemmenden Wirkungen implizit gesucht und benutzt werden, um die eigene Persönlichkeit in einen subjektiv passenderen, verträglicheren Zustand zu bringen.
Da nicht jeder hochängstliche oder hoch antisoziale Mensch suchtkrank wird, ist nicht von einer einfachen Kausalität zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Suchtproblemen auszugehen. Vielmehr herrscht ein komplexes Bedingungsgefüge aus biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren (biopsychosoziales Modell) vor, das insgesamt im Sinne von sich verstärkenden oder abschwächenden Risikofaktoren für die Entstehung einer Suchterkrankung verantwortlich ist. In manchen Fällen können auch in Folge längerfristigen übermäßigen Substanzkonsums Persönlichkeitsveränderungen eintreten.
So entstehen Depressionen auch als Folge langjährigen Alkohol- und Drogenkonsums, ebenso wie drogeninduzierte Psychosen, insbesondere bei Cannabis, Kokain und Amphetaminen, Persönlichkeit und Verhalten stark beeinflussen können. Während die beiden dargestellten Persönlichkeitstypen als präklinische Suchtpersönlichkeiten (die Persönlichkeitsauffälligkeiten bestanden vor der Suchterkrankung) zu verstehen sind, können auch durch langjährigen Substanzkonsum Persönlichkeitsverändern – bisweilen in Kombination mit dementiellen Erkrankungen – entstehen. Dann handelt es sich um postklinische Suchtpersönlichkeiten (durch die Suchterkrankung veränderte Persönlichkeitsmerkmale). Es wird geschätzt, dass die in Behandlung befindlichen Suchtkranken bei Persönlichkeitsauffälligkeiten in etwa zwei Dritteln aller Fälle präklinisch psychische Auffälligkeiten aufwiesen.
Zusammenhänge von Persönlichkeitstypen und Suchtverhalten
Bei den Merkmalen des Typs 1 wie Ängstlichkeit, negatives Selbstbild, geringes Selbstwertgefühl und Depressivität sind es die unmittelbaren Wirkungen von Substanzen, die subjektiv positiv für den Konsumenten sind. Die psychischen Symptome werden reduziert, hören im Idealfall sogar völlig auf, solange die Substanzwirkung im Organismus anhält. Deshalb wird dann im Anschluss erneut konsumiert und es entsteht ein Teufelskreis aus psychischem Missbefinden und Substanzkonsum, der am Ende immer intensiver und stärker wird.
Auch viel Evidenz liegt dafür vor, dass Merkmale des Typs 2 wie Impulsivität, Selbstkontrollprobleme, Frustrationsintoleranz und Antisozialität ein erhöhtes Risiko für übermäßigen, exzessiven Substanzkonsum und Suchtstörungen mit sich mitbringen. Dies heißt nicht, dass jede Person mit diesen Merkmalen suchtkrank werden muss. Vielmehr – und dies bedeutet Denken in Wahrscheinlichkeiten – weisen sie ein höheres Risiko auf, mit Suchtmitteln exzessiv umzugehen und in der Folge suchtkrank zu werden. Ähnlich
Für den persönlichkeitspsychologisch unauffälligen Typ 3 sind andere Faktoren in der Entstehung der Suchterkrankung zu benennen. Dies können insbesondere biologische und soziale Faktoren sein. Zu den besonders relevanten sozialen Faktoren gehören Konsumrituale, Peer-Druck zum Mitkonsumieren, Geselligkeits- und Zugehörigkeitsmotive und übermäßiger Alltagsstress in Beruf, Familie und Partnerschaft.
Zusammenhänge, Risiken, Interventionen: Implikationen für Prävention
Die Resultate der persönlichkeitspsychologischen Suchtforschung spielen für Prävention und Therapie von Suchtstörungen eine wichtige Rolle. Einerseits sollten psychische Probleme im Kindes- und Jugendalter frühzeitig, nachhaltig und evidenzorientiert behandelt werden. Dies im Sinne der Prävention von Suchtstörungen. Selbst wenn schon Substanzkonsumprobleme im Jugendalter vorliegen, sind hilfreiche Interventionen in Bezug auf die psychische Problematik und die Konsumproblematik gerade wichtig (siehe „Jugend und Sucht – Entwicklungsaufgaben für Suchtprävention“). Dies im Sinne einer indizierten Prävention. Wichtig sind dann Angebote zur Steigerung der Lebenskompetenz (Selbstsicherheit, Bedürfnisartikulierung, Emotionsregulation, Aggressionskontrolle usw.), der Risikokompetenz und der der Resilienz (Stresskompetenz; siehe auch „Resilienz – Die Kraft, die in den Menschen steckt“). Da Persönlichkeitsprobleme im Jugendalter noch leichter lösbar sind als in späteren Lebensjahren, sind frühzeitige Interventionen bei stark konsumierenden Jugendlichen besonders wichtig.
Zusammenhänge, Risiken, Interventionen: Implikationen für Therapie
Hat sich eine Suchtstörung entwickelt und verfestigt, ist oft eine längerfristige ambulante oder stationäre Therapie wichtig. Neben den suchttherapeutischen Therapiezielen sind auch die psychischen und insbesondere persönlichkeitsbezogenen Probleme für eine gelingende Therapie zentral. Nicht selten handelt es sich bei einer Suchterkrankung um eine psychisch komorbide Problematik, bei der dann neben der Sucht eine andere psychische Störung (Depression, Angst, Persönlichkeitsstörung) vorliegt. Dann sollten beide Problematiken kombiniert behandelt werden. Gehört dazu auch eine Persönlichkeitsproblematik, was wie weiter oben gezeigt wurde, bei sehr vielen Suchtkranken der Fall ist, sollte diese auch im Fokus stehen.
Weil Persönlichkeitsmerkmale und insbesondere -probleme im Erwachsenenalter nicht leicht zu verändern sind, bietet sich ein Persönlichkeitscoaching und eine Optimierung von Selbstwert und Selbstbild an. Auch eine Persönlichkeitsberatung („Mach mehr aus Deinem Typ!“) kann gerade am Anfang der Therapie die Motivation für Selbstreflektion und Veränderung wecken. Dabei sollen die eigenen Anteile an Beziehungs- und Lebensproblemen leichter erkannt werden, so dass die Motivation zur Veränderung steigt.
Dies eröffnet gerade am Anfang eher Erfolge als eine langwierige tiefenpsychologische Persönlichkeitsbehandlung, die natürlich bei entsprechender Motivation durchaus erfolgen sollte. Oft herrscht bei einer Suchterkrankung eine tiefe, durchgängige Tendenz zur Externalisierung („die anderen sind schuld“) vor, die durch die Abstinenz und die verstärkte Selbstreflektion zu mehr Internalisierung („das habe ich nie so gesehen“) umgebaut werden kann. Der Zugang zu den eigenen Anteilen in Bezug auf Lebens- und Suchtprobleme fällt am Anfang meist schwer, kann aber dauerhaft zu einer stabileren psychischen Verfassung mit besserer Selbsterkenntnis und Verhaltenskompetenzen führen.
Persönlichkeitsentwicklung als zentrale Aufgabe für die psychische Gesundheit
Persönlichkeit ist das, was uns Menschen einzigartig macht. Je nach Persönlichkeit kann Leben gelingen oder misslingen. Wir sollten unsere Persönlichkeit genauso entwickeln und pflegen wie wir es mit unserer Gesundheit tun, denn Persönlichkeit ist zentraler Bestandteil der psychischen Gesundheit. Dies gilt im Kontext der Prävention und Therapie von Sucht in besonderem Maße, da zentrale psychische Funktionen durch die Substanzwirkung verändert und manipuliert werden. Die Weiterentwicklung und Veränderung von Persönlichkeit gelingt auf zwei notwendigen Wegen: Der Arbeit am inneren Ich und mit Interaktion mit wichtigen Menschen aus dem Nahfeld. Beide Wege gehören zusammen und bieten – gerade bei Suchtstörungen – die notwendige Grundlage für Bewältigung und Veränderung.
Weiterführende Literatur:
Sachse, Rainer (2019). Persönlichkeitsstile. Wie man sich selbst und anderen auf die Schliche kommt. Paderborn: Junfermann.
Walter, Marc, Sollberger, Daniel & Euler, Sebastian (2022; 2. erw. u. überarb. Aufl.). Persönlichkeitsstörung und Sucht. Stuttgart: Kohlhammer.