Im ersten Jahr der Corona-Pandemie schreibt Bayern Geschichte im Alkoholbereich. Wie so oft, könnte man denken. Aber es geht nicht um das krampfhaft verteidigte Reinheitsgebot, nicht um aus dem Norden eindringende obergärige Biersorten wie Kölsch und Alt, nicht um die kreativen, bunten Craft-Biere junger Brau-Freaks aus USA und den Niederlanden. Nein, die Welt steht Kopf und alles ist andersrum: Der Münchner-OB und die große Mehrheit der Stadtratsfraktionen wollen dem öffentlichen Alkoholgenuss in Zeiten steigender COVID-19-Neuinfektionen den Gar ausmachen, wenigstens spätnachts, wenigstens in der Öffentlichkeit.
Inhaltsübersicht
Die bayerische Biergeschichte steht Kopf – geht das denn?
Epidemiologisch: völlig richtig, um dies eingangs klarzustellen. Kulturgeschichtlich und alkoholtraditionell: ein No-Go für traditionsbewusste Bayern und Münchner. Das schöne, betäubende, enthemmende Gebräu einfach des Nachts verbieten? Die Mönche in Andechs und anderswo haben die Rezepturen über Jahrhunderte bewahrt und verbessert und jetzt das? Es riecht nach Kulturfrevel. Will München damit in die Geschichte eingehen? Die erste deutsche Großstadt, die den Bierkonsum (genau genommen geht es ja um alle Alkoholika!) im Freien überall verbietet. Bislang galt München als die Welthauptstadt des Bieres, gefördert durch das größte Besäufnis unter Gottes Himmel, so jedenfalls der gerne verbreitete Mythos über das jahrhundertealte Oktoberfest. Vor wenigen Jahren galt Bier noch als Grundnahrungsmittel. Auch beim Autofahren sollten zwei Maß unschädlich sein! Der auch sonst sehr tiefsinnige Münchner Kabarettist Karl Valentin riet seinen Mit-Münchnern: “Leit, saufts ned so vui, trinkt’s lieber a Bier!”. Heute scheint alles anders.
Die Ministerpräsidenten (MPs) haben sich gewaltig gewandelt
Gab es vor Jahren noch einen MP von CSU, der seinen Mitbürgern Bier als Grundnahrungsmittel und in mittelgroßen Mengen unschädlich beim Autofahren empfahl, ist der heutige MP von einem anderen Kaliber! Aber ob ihm da das bierselige Volk so ohne Weiteres folgt. Am Trockenlegen der Bevölkerung sind schon ganz andere gescheitert, von Johannes Calvin bis Michail Gorbatschow. Vielleicht hilft ja auch bei der Corona-Bekämpfung der alte Volksglaube, dass Bier kein Alkohol ist, sondern flüssiges Brot sei und damit ein Nahrungsmittel. Hat der Münchner Stadtrat daran gedacht? Denn jetzt ein Alkoholverbot, das Bier umfasst, das ist so als ob man den Berlinern ihre Haschparks nimmt. Also, was ist geschehen?
Bayern ist nicht der Musterknabe in Sachen Neuinfektionen – peinlich!
Die bayerische Landeshauptstadt nähert sich mit den Neuinfektionsquoten der selbst gesetzten Vorwarngrenze von 35 pro 100.000 Einwohnern. Schließlich war in der letzten Augustwoche ein Wert von 33,84 erreicht worden. Inkriminiert werden die Feiern im Freien: Gärtnerplatz, Englischer Garten, Isar-Auen. Und Bayern insgesamt belegt inzwischen – ganz im Widerspruch zum Willen und den öffentlichen Bekundungen des Ministerpräsidenten – den traurigen Spitzenplatz unter den Bundesländern bei den Neuinfektionen, vor dem konkurrierenden NRW, das für seinen ordnungspolitischen Chaotismus in seinen Metropolen Köln, Düsseldorf, Dortmund, Münster usw. ja bekannt ist. Das kann nicht sein, das darf nicht sein! Also schnell eine Verordnung machen und das regelhaft betrunkene Partyvolk trockenlegen. Könnte ja helfen…
Partyvolk nimmt den Senizid billigend in Kauf
Der Hintergrund ist aber völlig richtig erkannt: Junges Partyvolk will feiern, und das mit Alkohol. Und gerne viel davon. Und das heißt, den potentiellen Coronatod der Alten, den Senizid, billigend in Kauf zu nehmen. Ja, liebe Coronaleugner, das ist Rückseite der feiernden Menschenansammlungen, immer noch!
Und in München mit seinen steigenden Neuinfektionsquoten heißt das: Schluss mit lustig! Aber nur von 23 bis 6 Uhr. Dann lieber früher mit dem Feiern und Trinken beginnen. Es wird doch sowieso immer früher dunkel. Der Gärtnerplatz ist leider sehr eng, also lieber im Englischen Garten, da geht das Social Distancing besser, aber da feiert das Partyvolk nicht so gerne. Und je mehr Alkohol, desto weniger Social Distancing und beim Trinken stört die Maske sowieso. Also Ansteckungsrisiken zu Hauf.
Was tun? Ab 23 Uhr kein öffentliches Trinken mehr, so sieht es die neue Verordnung vor. Bis dahin dürfte die durchschnittliche Intoxikation die 1-Promille-Grenze klar überschritten haben. Recht auf Rausch? Nein, gibt es sowieso nicht laut Bundesverfassungsgericht von 1994. Und in Corona-Zeiten wegen Infektionsschutzgesetz außer Kraft gesetzt! Gut so, denken zumindest die Puritaner und Präventologen. Endlich macht eine Stadt Ernst mit der Alkoholprävention. Corona sei Dank. Und wenn sogar Las Vegas mit seinen glitzerbunten Spielcasinos im Frühsommer für Wochen geschlossen war, dann kann München wenigstens seine Plätze für die alkoholische und virologische Gefahr in Kombination dichtmachen.
Früher gab es wenigstens Pestbier!
Während der mittelalterlichen Pest-Pandemien gab es wenigstens Pestbier, gerade in Bayern. Um den schwächelnden Kranken Kraft zu geben. Aber umsonst! Inzwischen haben die Gesundheitsexperten wenigstens erkannt, dass Bier enthemmt und nicht gegen Krankheitserreger taugt. Macht auch nicht kräftig, sondern willenlos. Kein gutes Medikament also und durch die Enthemmung ab gewisser Dosis trinkt man sich nicht nur das andere Geschlecht schön (stimmt wirklich!, sagt die Alkoholforschung), man will ihm dann auch näher kommen. Also gefährlich. Deshalb besser kein Corona-Bier! Oh je, das gibt es ja schon. Sorry. Also besser den Alkoholgehalt runterfahren und auf die Placebowirkung des Getränkes hoffen. Alkoholfreies Corona-Bier, das wär´s doch! Das könnte sogar die Brauerei mit dem no-go-Namen retten.
Besser kiffen als saufen?!
Welche Alternativen gibt es noch für das Partyvolk und die Ordnungshüter? Endlich eine andere Drogenpolitik! Das COVID-19-Virus mit Cannabisqualm ausräuchern. Eine Option, wenigstens eine Versuchsanordnung, wäre es wert. Klappt aber nicht, weiß man jetzt schon. Ist zwar ein Wunderkraut, aber kein Allheilmittel. Wenn die CSU sowieso nach 2021 die bundesweite Cannabislegalisierung mittragen muss, kann sie schon mal üben im Verbund mit dem SPD-Stadtoberhaupt von München. GROKO auf THC-Basis! Aber die Joints dürften dann nicht kreisen und nach jedem Zug wieder schön die Maske aufziehen!
Einfach Herbst werden lassen
Die einfachste Option ist allerdings, es einfach Herbst werden zu lassen. Die Heizpilze sind sowieso verboten wegen Klimawandel, und wenn es dem Partyvolk zu kalt wird, ist sowieso Schluss mit lustig, wenigstens im Freien. Also auf den bayerischen Herbst vertrauen mit Nebel und Regen und nur ab und zu einen Fön-Rückfall. Jetzt hat die Landeshauptstadt so lange zugewartet, dass man es auch noch bis zum Herbstanfang am 22. September um 15.30 Uhr schafft. Sozusagen einfach etwas bayerische Gelassenheit üben. Und dass dann die ganzen Partys nach innen verlegt werden, macht die Sache auch nicht besser. Dann braucht es eine neue Verordnung gegen den Alkohol in den teuren Münchner Häusern.
Oder klagen?! Inzwischen eine sehr deutsche Lösung. Klappt auch, wenn auch nur für einen…
Noch kann es sein, dass der bayerische Verwaltungsgerichtshof der nassforschen, aber präventiv klugen Verordnung einen Strich durch die Rechnung macht. Ein relevantes Stück bayerischer Alkoholgeschichte würde so nicht geschrieben. Schon sind mehrere weitere bayerische Städte (Nürnberg, Augsburg, Bamberg) auf dem Weg, es München mit städtischen Alkoholverboten gleich zu tun. Die Staatsregierung habe diese weiteren Städte animiert, es den Münchnern gleichzutun.
Will denn die Regierung des Freistaates Bayern völlig austrocknen? Soll die Brauerei Jever aus Ostfriesland das darbende Land im Südosten übernehmen? Das Münchner Verwaltungsgericht schickt sich derweil an, den Lauf der Alkoholgeschichte in Bayern anzuhalten. Einem Kläger wurde in einem Eilverfahren zugestanden, dass das Alkoholverbot nach 23 Uhr für ihn – und nur für ihn – nicht gilt. Wenigstens vorläufig. Also wird in den Nächten – wenn sie nicht schon zu kalt sind – ein einsamer Biertrinker legal auf dem Gärtnerplatz dem maskierten wassertrinkenden Partyvolk zuprosten können. Fürwahr: Die bayerischen Richter haben salomonische Gene in ihrem Blut! Und am 01. September setzten die oberweisen Richter des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes (VGH) noch einen drauf: Alkoholverbote wg. Corona-Infektionsgefahr – ja!, aber nicht im ganzen Stadtgebiet, nur an den echten Hot-Spots. Also Entlastung für die Pseudo-Hot-Spots und kein Bier an den echten Hot-Spots. Weiter so, Justitia!
Hilft das Ganze in der Prävention?
So sehr sich das trinkende und feiernde Partyvolk auch echauffiert, die Frage, ob Alkoholverbote bei der Weitergabe des Virus helfen, muss man dem Stadtrat recht geben. Die menschliche Enthemmung unter größeren Mengen Alkohol ist so stark, Handlungskontrolle lässt nach, Risikobereitschaft nimmt zu, Aerosolaussonderungen nehmen zu… Man kann dem Münchner OB und dem Stadtrat zu seiner Rationalität und Evidenzbasierung in Zeiten der Hysterie und aufgeregten sozialen Netzwerke nur gratulieren. Chapeau! Alles alkoholpolitisch richtig gemacht.
Was tun?
Das Dilemma ist klar. Die Neuinfektionszahlen müssen runter, die bayerischen Daten müssen besser werden, damit der MP glaubwürdig bleibt, die Alten müssen besonders geschützt werden, das Partyvolk braucht wenigstens ein bisschen Feierchancen… Man will nicht als völliger Spaßverderber der Jugend dastehen. Alles soll irgendwie am Ende ein Happy End ergeben. Also gut: Dann spricht alles für CBD-haltiges-alkoholfreies Bier. Cannabidiol (CBD), das ist der „gute Inhaltsstoff“ beim Cannabis, der hilft gegen Schmerzen, entkrampft, wirkt gegen Wahnvorstellungen und hat sonst noch allerlei Vorteile. Die CSU kann sich weiter modernisieren und schon mal Legalisierung üben, die Münchner Brauereien können endlich das Reinheitsgebot überwinden, das ihnen wie ein Mühlstein am Halse hängt, das Partyvolk kann trinken und Abstand halten, die Infektionszahlen gehen runter und der Herbst kann kommen. Prosit!