Kokskrise in Deutschland?

Wächst in Deutschland der Kokainkonsum so stark, dass von eine „Kokskrise“ geredet werden muss? Über diese Frage sprach ich mit dem Macher von BreakingLab, Jacob Beautemps. Das aufwendig produzierte Video zu Kokain und der Frage einer Kokskrise ist hier verlinkt. Klar ist, dass nach der weitgehenden Legalisierung von Cannabis sich der Fokus jetzt mehr und mehr auf die jetzt am häufigsten konsumierte illegale Droge, Kokain, richtet. Außerdem steigen die durch Zoll und Polizei beschlagnahmten Mengen der Substanz seit Jahren. Das ist ein Indiz für den zunehmenden Konsum im Land, aber auch für die Unfähigkeit, diesen mit repressiven Maßnahmen alleine einzudämmen. 

Kokain ist ein halbsynthetisches Produkt aus der Koka-Pflanze. Das bedeutet, dass es aus einer natürlichen Quelle – den Blättern des Kokastrauchs – gewonnen und durch chemische Prozesse in seine wirksamere Form umgewandelt wird. Kokain in seiner Reinform ist ein weißes Pulver. Im illegalen Straßenverkauf wird es jedoch oft mit anderen Substanzen wie Maisstärke, Talkumpuder oder Mehl gestreckt, um den Profit zu erhöhen. Der Reinheitswert liegt so meist nur bei 60% bis 80%. Es wird bisweilen auch mit anderen Drogen wie Amphetamin oder Fentanyl gemischt, was weitere Abhängigkeitsrisiken schafft und außerdem das Risiko einer Überdosierung erhöht.

Wirkweise des Kokains

Kokain gehört – wie auch die Amphetamine und Koffein – zur Gruppe der Stimulanzien, da es die Aktivität des zentralen Nervensystems erhöht. Es wirkt hauptsächlich, indem es die Freisetzung von Dopamin, Noradrenalin und Serotonin im Gehirn erhöht, was als „Aktivitätskick“ erlebt wird. Dies führt zu verstärkter und längerer Wachheit, besserer Konzentration und Leistungsfähigkeit, aber auch zu Euphorie, Selbstüberschätzung und Größenphantasien führt. Durch den fortgesetzten Konsum können paranoide Ängste, Psychosen und Depressionen ausgelöst oder verstärkt werden. Dabei ist Kokain ein „alter Bekannter“. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts war der Konsum weit verbreitet und Kokain war eine höchst beliebte Gesellschaftsdroge. Der Wiener Arzt und Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, konsumierte für einige Jahre Kokain und beschrieb die Substanz zunächst in den höchsten Tönen, bis er die Nachteile (Verlangen, psychische Abhängigkeit, Depressivität) kennenlernte. In den 20-er Jahres des letzten Jahrhunderts herrschte insbesondere in Berlin und Wien eine regelrechte Kokain-Epidemie („roaring twenties“). 

Epidemiologie des Kokainkonsums

Bei den 21- bis 24- jährigen jungen Erwachsenen ist der Konsum derzeit am höchsten mit einer Jahresprävalenz von 4.3% (Epidemiologischer Suchtsurvey ESA, 2021). In der Altersgruppe der jungen Erwachsenen (18 bis 25 Jahre) liegt die Lebenszeitprävalenz bei 10.4%. (Epidemiologischer Suchtsurvey ESA, 2021). Für alle Erwachsenen liegt die Lebenszeitprävalenz bei 5.6% (Männer: 7.0%, Frauen: 4.0%). Im letzten Jahr haben 1.6% aller Erwachsenen (Männer: 2.1%, Frauen: 1.1%) Kokain konsumiert. Als aktuelle Konsumenten wurden 0.6% aller Erwachsenen (Männer: 0.8%, Frauen: 0.4%) gezählt. Doppelt so viele Männer im Vergleich mit Frauen konsumieren also sowohl gelegentlich als auch regelmäßig Kokain. Von den Kokainabhängigen sind etwas als 50% Männer. Das durchschnittliche Einstiegsalter in den Konsum beläuft sich auf 24 Jahre. In Deutschland ist von 430.000 regelmäßigen Kokainkonsumenten auszugehen. Die Dunkelziffer gelegentlicher Konsumenten ist hoch und kann einige Hunderttausend Personen betragen. Derzeit wird eine Zahl von mindestens 50.000 Kokainabhängigen angenommen. Jährlich sind 43.000 Personen wegen Kokainabhängigkeit in Behandlung. Trotz der kontinuierlichen Zunahme von Kokainkonsumenten in Deutschland ist es übertrieben von einer massiven „Kokskrise“ zu sprechen. Allerdings sollte die Verbreitung des Konsums und der Folgen genau beobachtet werden. 

Konsummuster und Konsumrisiken

Ein besonders wichtiges Thema beim Kokainkonsum, das sich oft zum Problem auswächst, ist der Mischkonsum von Kokain mit anderen Substanzen, insbesondere Alkohol. Durch den Konsum von Alkohol, insbesondere Wein, wird die Kokainwirkung verstärkt. Außerdem wird Wein aber auch zum Sedieren der Kokainwirkung eingesetzt. 

In der Kombination mit Heroin wird Kokain als Speedball benutzt. Die Wirkung beider Drogen potenziert sich dabei enorm. Dabei konsumieren Männer 4-mal häufiger als Frauen Kokain. Insbesondere Risikobereitschaft, Leistungsstreben, beruflicher und privater Stress sowie Abwehr von Depression sind die Konsummotive.

Zu den zahlreichen Konsumrisiken des Kokains zählen körperliche Folgen (Herzerkrankungen, Nasenschädigungen, Gehirnschäden) und psychische Folgen (Abhängigkeit, Depressionen, drogeninduzierte Psychosen). Die meist schnell entstehende psychische Abhängigkeit (vgl. Das „Psycho“ im biopsychosozialen Modell der Sucht – die psychologischen Zugänge zur Entstehung und Behandlung) wird oft unterschätzt oder verharmlost.

Um die Entwicklung einer Abhängigkeit zu vermeiden, sind bei Konsumenten Konsumpausen sehr wichtig, damit sich das gehirneigene Dopaminsystem von den als Stress erlebten starken Überflutungen mit der Substanz erholen kann. Aber wenn schon konsumiert wird, ist das Einüben von Widerstehen gegenüber der Substanz in konsumaffinen Situationen sehr wichtig (Dem unwiderstehlichen Verlangen widerstehen – Umgang und Bewältigung von Craving). Dies geschieht durch situativen Konsumverzicht und Ablehnung der Droge.

Konsumanlässe und -folgen

Als Konsumanlässe sind häufig psychische und psychosoziale Probleme zu finden. Stress- und Überforderungsgefühle in Beruf und Alltag führen gerade bei Führungskräften, Freiberuflern und Selbstständigen häufig zum Probierkonsum. Auch bei Berufsmusikern (vgl. Musik und Drogenkonsum – eine Liebesbeziehung?) und Prominenten (vgl. Prominente, Drogenkonsum und Sucht) findet sich häufiger Kokainkonsum. Dieser kann sich verstetigen zum Gewohnheitskonsum und zur Abhängigkeit auswachsen. Auch Probleme im Bereiche Konzentration, Ausdauer und Hyperaktivität (insbesondere das Krankheitsbild ADHS) können im Sinne eines Selbstmedikationsversuchs Einstiegsmotive sein. Selbstunsicherheit, sexuelle Funktionsstörungen und Persönlichkeitsprobleme, besonders Narzissmus, emotionale Instabilität („Boderline“) und Antisozialität, sind oft Einstiegsursachen in den Kokainkonsum. 

Kokskrise: Die arme Schwester Crack

Als Armutsvariante von Kokain, das in der Tat sehr oft von Personen mit hohem sozialem Status konsumiert wird, gilt der Konsum von Crack. Crack ist eine Form von Kokain, die geraucht werden kann. Es wird hergestellt, indem Kokainpulver mit Backpulver und Wasser aufgekocht und dann in kleine Stücke, sogenannte Rocks, zerbrochen wird. Der Name “Crack” (knacken) kommt von dem knisternden Geräusch, das beim Erhitzen und Rauchen entsteht. Crack ist hochriskant und macht schneller abhängig als andere Formen von Kokain. Es gelangt innerhalb von ca. 8 Sekunden ins Gehirn und erzeugt ein “High”, das etwa 15 Minuten anhält. Danach entsteht schnell Verlangen nach einer neuen Konsumdosis. Zu den möglichen Hauptgefahren von Crack zählen: 

  • Körperliche Nebenwirkungen: Chronische Halsschmerzen, Bronchitis, Atemprobleme, Gewichtsverlust, Krampfanfälle, Schwitzen, Bluthochdruck, Heiserkeit, Lungenkrebs, verlangsamte Verdauung, erhöhte Herzfrequenz, Herzinfarkt, Kurzatmigkeit, Emphysem.   
  • Entzugssymptome: Übelkeit, Paranoia, körperliche Probleme, starkes, kaum bezwingbares Verlangen nach der Droge.   
  • Psychische Folgen: Traurigkeit, Depression, starke Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Paranoia und Psychosen mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen.   
  • Soziale Folgen: Aggressives und ggf. paranoides Verhalten, finanzielle Probleme, Beschaffungskriminalität und soziale Isolation.   

Lange Zeit war Crack-Konsum in den Armenvierteln US-amerikanischer Großstädte und den dortigen Ghettos stark verbreitet. Inzwischen ist Crack auch in Europa angekommen und auch deutsche Metropolen berichten steigende Konsumentenzahlen, verbunden mit weiterer Verarmung, Beschaffungskriminalität und Gewalt. Exponierte Kinder crackabhängiger Eltern sind besonders hart betroffen und bedürfen frühzeitiger und nachhaltiger Kinder- und Jugendschutzmaßnahmen. Crackkonsum in der Schwangerschaft kann zu Fehlbildungen, Behinderungen, Retardierungen und Frühgeburt führen. 

Kokainkonsum: Hellfeld und Dunkelfeld

Der Kokainkonsum in Deutschland hat in den letzten Jahren zugenommen, insbesondere bei jungen Erwachsenen. So stieg der Anteil der 18- bis 59-Jährigen, die mindestens einmal im Jahr Kokain konsumieren, zwischen 2015 und 2021 von 0,6 auf 1,6 Prozent. Diese Zahlen beziehen sich auf reaktive Befragungen. Dies bedeutet, dass Personen zu einem möglichen Konsum anonym befragt werden und selbst entscheiden, ob die wahrheitsgemäß antworten. Bei strafrechtlich relevantem Verhalten kann es zu einem erheblichen Underreporting kommen, d.h. die wahren Quoten liegen oft deutlich höher.

Deshalb sind indirekte Messungen des Konsums eine Möglichkeit, Verzerrungen auszuschließen. In diesem Zusammenhang berichtet die europäische Drogenbeobachtungsstelle (ehemals EMCDDA, inzwischen XXX) interessante Ergebnisse. Diese betreffen die indirekte Messung von Kokainkonsum durch Abwässer, in denen Abbauprodukte des Kokains in Urin enthalten sind, in verschiedenen europäischen Großstädten. So kann neben dem in Befragungen erhobenen Hellfeld auch eine Analyse des Dunkelfelds des Kokainkonsums erfolgen. Seit 2016 nimmt nach diesen Angaben der Anteil des Abbauprodukts Benzoylecgonin in den Abwässern dieser Großstädte beständig zu. Dabei handelt es sich um ein Abbauprodukt, das nur im menschlichen Körper entsteht, wenn die Person Kokain konsumiert hat. Es wird über den Urin wieder ausgeschieden und gelangt so ins Abwasser. Es handelt sich dabei um eine nonreaktive Messung, bei der Personen nicht befragt werden müssen, was gerade bei illegalem Drogenkonsum sehr fehleranfällig ist. 

Der Kokain-Konsum in Berlin und anderen deutschen Städten ist in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen. Das geht aus neuen Abwasseranalysen der europäischen Drogen-Beobachtungsstelle (EMCDDA) hervor. Demnach haben sich im Abwasser der deutschen Hauptstadt die Kokain-Spuren von 2015 bis 2022 mehr als verdreifacht – nachgewiesen wurden zuletzt im täglichen Durchschnitt 540 Milligramm je tausend Personen, 2015 waren es erst 169 Milligramm. Daraus kann eindeutig eine Verdreifachung des Kokain-Konsums innerhalb von sieben Jahren abgeleitet werden.

Kokskrise – Hinweise für Prävention und Risikoreduktion

Am besten ist es natürlich, kein Kokain zu konsumieren, wenn man sich vor Abhängigkeit und den körperlichen und psychischen Folgen schützen will. In Zukunft könnten noch potentere synthetische Formen von Kokain entstehen, was die Wirkung noch verstärken, aber die Risiken auch erhöhen würde. 

Sollte dennoch konsumiert werden, sind zur Risikoreduktion Konsumpausen wichtig. Gerade Männer mit ihrer hohen Probierbereitschaft für illegale Drogen, sollten ihre Kontrollfähigkeiten über den Konsum nicht überschätzen und diese Regel befolgen. Da bei Kokainkonsum schnell eine psychische Abhängigkeit entstehen kann, ist es wichtig, Lebensanforderungen und Problemsituationen auch kokainfrei zu bewältigen. Fehlen die Fähigkeiten dazu, sollte frühzeitig eine Psychotherapie in Erwägung gezogen werden. Bei vorhandener psychischer Abhängigkeit kann sich in relevanten Triggersituationen (Konsumorte, -anlässe und -umstände) schnell ein starkes Verlangen (Craving) entwickeln (vgl. Dem unwiderstehlichen Verlangen widerstehen – Umgang und Bewältigung von Craving), dem immer schwerer zu widerstehen ist. Die psychische Abhängigkeit entsteht schleichend (vgl. Das „Psycho“ im biopsychosozialen Modell der Sucht – die psychologischen Zugänge zur Entstehung und Behandlung) und wird von den Konsumenten oft nicht rechtzeitig bemerkt und lange verdrängt, was durch die Ich-stärkende und Ich-euphorisierende (Schein-)Wirkung der Substanz noch verstärkt wird. Viele Personen mit problematischem Kokainkonsum oder Kokainabhängigkeit scheuen sich, in das klassische Suchtbehandlungssystem einzutreten. Furcht vor Stigmatisierung, Begegnung mit anderen Drogenkonsumenten und mangelnde Erfolgserwartung sind die häufigsten Gründe, nicht eine Suchtberatungsstelle aufzusuchen. Hier kann ein Einstieg durch anonyme Beratung, Krisenintervention oder vertrauliche Einzelpsychotherapie geschehen.