Der Kenntnisstand zu von elterlicher Glücksspielsucht betroffenen Kindern ist immer noch sehr gering. Dabei sind zwischen 150.000 und 350.000 Kinder und Jugendliche betroffen, meistens von der Glücksspielsucht des Vaters. Im Rahmen einer in Deutschland bislang einmaligen Studie wurde mit Unterstützung der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung1 die Situation Jugendlicher und junger Erwachsener untersucht, deren Eltern glücksspielsüchtig waren oder es auch noch sind. Die Studie bestand aus einem Forschungsreview zu vorliegenden internationalen Studien und einer empirischen Befragung junger Erwachsener in Deutschland, deren Eltern glücksspielsüchtig waren.
Inhaltsübersicht
Hintergrund
In Deutschland gelten bis zu 600.000 Personen als glücksspielsüchtig bzw. mindestens problematisch spielend. Mehr als 90% davon sind Männer, zu etwa einem Drittel sind diese auch Väter. Problematisches und pathologisches Glücksspiel betrifft am häufigsten junge Männer. So zeigen 2,13% der 21- bis 25-jährigen und 1,57% der 18- bis 20-jährigen Männer in Deutschland ein Problemspielverhalten (Banz & Lang, 2017). Neben jungem Alter, männlichem Geschlecht und Migrationshintergrund (Banz & Lang, 2017; Rickwood et al., 2010) gilt das Aufwachsen in einer suchtbelasteten Familie als wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung von Suchtproblemen. So stammen junge Spieler mit signifikant erhöhter Wahrscheinlichkeit aus Familien mit glücksspielsüchtigen Eltern (Rickwood et al., 2010; Derevensky & Gupta, 1998) und häufig auch von substanzsüchtigen Eltern.
Eine australische Studie zeigte, dass die Kinder glücksspielsüchtiger Väter eine 10,7- bis 13,5-mal höhere Wahrscheinlichkeit für problematisches Glücksspielverhalten hatten als ihre Gleichaltrigen ohne belastete Eltern (sowie 6,7- bis 10,6-mal höher bei glücksspielsüchtigen Müttern). Bis zu 10% der Australier wachsen in einer Familie mit einem problematisch spielenden Familienmitglied auf (Rickwood et al., 2010) und auch in Deutschland sind 25 bis 33% der pathologisch Glücksspielenden (PGS) gleichzeitig Väter bzw. Mütter minderjähriger Kinder (Bachmann, 2004). Die hohe Zahl exponierter Kinder (Hochrechnungen zufolge handelt es sich um mindestens 150.000 Kinder) zeigt den Bedarf an evidenzbasierten, wissenschaftlich evaluierten Präventionsaktivitäten, um der Entwicklung von psychischen Erkrankungen von Suchtstörungen über Depressionen bis hin zu Persönlichkeitsstörungen vorzubeugen.
Viele Glücksspielsüchtige weisen eine psychische Komorbidität auf, d.h. sie leiden an anderen psychischen Störungen, vor allem Depressionen, Angststörungen, Alkohol- und Drogenabhängigkeit sowie Persönlichkeitsstörungen. Meist kommen starke soziale Probleme wie Verschuldung, Arbeitslosigkeit und Stigmatisierung hinzu. Auf die exponierten Kinder umgesetzt, heißt dies, dass sie häufiger mit einem psychisch komorbiden Elternteil als mit einem rein glücksspielsüchtigen Elternteil aufwachsen. Hinzu kommt die meist hohe chronische Stressbelastung des anderen Elternteils, der sich ebenfalls auf das exponierte Kind auswirkt.
Die Kinderglückstudie – der Zugang zur Untersuchungsgruppe und die Methodik
Im Rahmen der Kinderstudie, die wir „Kinderglück“ nannten, um die wahren Bedürfnisse von Kindern in Familien zu benennen, wurden Jugendliche und junge Erwachsene bezüglich der Erfahrungen in der glücksspielsuchtbelasteten Familie und den Konsequenzen daraus für ihr damaliges und heutiges Leben befragt. Durch intensive Rekrutierungsbemühungen in sozialen Netzwerken, Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen konnten insgesamt 67 Probanden im Durchschnittsalter von 28 Jahren (davon 57% männlich) zu einem ausführlichen Interview telefonisch erreicht werden. Die Auswahl ist nicht repräsentativ, sondern rein explorativ. Es ging dabei darum, einen Überblick über häufige Muster in belasteten Familien und die intrapsychische Verarbeitung durch die Kinder zu erhalten. Teilnahmebereite, motivierte Personen aus belasteten Familien nahmen freiwillig an der Untersuchung teil und wurden durch ein Anerkennungshonorar in Höhe von 25 € belohnt. Die durchschnittliche Interviewdauer betrug 40 Minuten. Die Gewinnung der Probanden für die Befragung gestaltete sich durch die Tabuisierung des Themas und die Corona-Pandemie äußerst schwierig.
Die Kinderglückstudie – die wichtigsten Ergebnisse
In einem umfangreichen biographischen und psychosozialen Interview wurden Daten zu erlebten Problemen, den wichtigsten Risiken und Ressourcen sowie den in Anspruch genommenen und gewünschten Hilfen erhoben. In 79% der Fälle hatte der Vater eine Glücksspielsuchtproblematik, bei 15% die Mutter und bei den verbleibenden 6% waren es beide Elternteile.
Die aus den mit Glücksspielsucht belasteten Familien entstammenden Personen (im Folgenden KvGspE, Kinder von Glücksspielern genannt) berichteten ein hohes Ausmaß an emotionalen und sozialen Belastungen in ihren Herkunftsfamilien. Knapp über 40% hatten in ihrer Kindheit und Jugend auch durch die Mitnahme in Kneipen und Gastwirtschaften Zugang zum Glücksspiel des belasteten Elternteils. Gut 30% nahmen auch an Sportwetten des Vaters teil. 35% beklagen in der Rückschau unberechenbare Abläufe in der Familie, 45% erlebten, dass die Eltern Absprachen und Versprechungen oft oder sehr oft nicht eingehalten haben.
56% berichten über häufigen oder sehr häufigen Streit in der Familie zwischen den Elternteilen. 59.7% der Probanden benannten häufiges oder sehr häufiges Lügen oder Geheimnisse Glücksspielsüchtigen gegenüber ihnen als Kind. Andererseits gab ein Drittel (31.3%) an, selbst oft oder sehr oft gelogen zu haben, um das Verhalten des glücksspielsüchtigen Elternteils zu decken, und 26.8% gaben an, wegen finanzieller Probleme oft oder sehr oft gelogen zu haben. 40% der Befragten gaben an, dass Sie in der Vergangenheit oder aktuell psychische Probleme mit Behandlungsbedarf hatten, vor allem Depression oder Angst. Auch soziale Probleme bei Kontakten, bedingt durch Unsicherheit oder niedriges Selbstwertgefühl, wurden in mehr als einem Drittel aller Fälle angegeben.
Implikationen und Konsequenzen aus der Kinderglückstudie
Die Ergebnisse zeigen, dass für die Kinder in Haushalten mit einem glücksspielsüchtigen Elternteil starke psychische, emotionale und soziale Stressfaktoren herrschen. Im sozialen Bereich sind es vor allem Geld- und Schuldenprobleme, die die ganze Familie und damit auch die Kinder betreffen. Nicht wenige berichten von Einschränkungen bei Kleidung, Reisen und Spielzeug, manchmal auch beim Essen. Während die Quote für physische Gewalt deutlich geringer ist als bei Kindern alkoholabhängiger Eltern, erleben die KvGspE oft Lügen, Unzuverlässigkeit und das Vortäuschen falscher Realitäten. Es ist naheliegend zu vermuten, dass die Beziehung zwischen Wahrheit und Unwahrheit, der Bezug zu Realem und Irrealem und unrealistisches Denken zentrale Erlebenselemente für die betroffenen Kinder sind. Ein gutes Drittel der Befragten haben soziale Ausgrenzung in ihrer Kindheit im vermutlichen Zusammenhang mit der Glücksspielproblematik des Elternteils erlebt. Dies bedeutet, dass sie oft ausgegrenzt und stigmatisiert wurden, nicht selten ohne die Gründe dafür zu kennen oder zu verstehen.
Kinder glücksspielsüchtiger Eltern und das Hilfesystem
In Bezug auf Hilfeangebote berichten die Interviewten nur von in 18% aller Fälle, dass es formelle Hilfeangebote und –versuche gab, die mit ihrer Lebenssituation und ihren Problemen zu tun hatten, z.B. durch Jugendämter, Psychotherapeuten oder Suchthilfe. Ebenso oft versuchten Verwandte und Bekannte zu helfen (informelle Hilfen). In der Rückschau wird jedoch von den Befragten ein Hilfebedarf von mehr als 60% angegeben.
Unsere Studie zeigt insgesamt, dass Kinder glücksspielsüchtiger Eltern eine Risikogruppe für psychosozialen Stress darstellen, die in den Versorgungssystemen bisher kaum gesehen werden. Ihre Situation bezüglich des riskanten Einflusses des elterlichen Verhaltens, der Auswirkungen auf Familienklima und Familieninteraktion und der Entwicklung früher psychischer Auffälligkeit zu verstehen und mit frühzeitigen adäquaten Hilfeangeboten zu beantworten, ist eine wichtige Aufgabe für Suchtprävention, Suchthilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Kinder- und Jugendhilfe. Als Interventionen kommen Eltern-Kindgespräche, Elternberatung, Einzelfallarbeit mit dem Kind, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und Teilnahme an selektiven Präventionsangeboten (wie z.B. TRAMPOLIN) in Frage. Ziel der Bemühungen sollte eine stärkere Sensibilisierung und Aktivierung der verschiedenen Sektoren der Praxis (Schule, Jugendhilfe, Suchthilfe, Haus- und Fachärzte) für zielgerichtete Präventions- und Interventionsmaßnahmen für Kinder glücksspielsüchtiger Eltern sein.
1 Wir danken der Landessuchtbeauftragten (Frau Köhler-Azara) und dem Referat Verhaltenssüchte (Frau Reschke) in der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung für die Förderung der Studie sowie allen befragten Teilnehmerinnen und Teilnehmern.
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Michael Klein
Laura Fischer, M. Sc.
Katholische Hochschule NRW
Deutsches Institut für Sucht- und Präventionsforschung (DISuP)
Wörthstraße 10
50668 Köln