Gelassenheit (Sucht und Emotionen #2)

Gelassenheit ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, um in Zufriedenheit gesund und lange zu leben. Das Streben nach Gelassenheit findet sich seit Jahrtausenden in philosophischen und religiösen Traditionen. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es Menschen schon lange schwerfällt, ihre Emotionen im Zaum zu halten und dauerhaft Gelassenheit zu erreichen. Wenigstens gilt dies für eine größere Zahl von Menschen und für Situationen, die als provozierend oder stresshaft erlebt werden. Vor allem bei starker Impulsivität, dem Hang, schnell wütend zu werden und explosiv zu reagieren, ist Gelassenheit das Mittel der Wahl, um besser mit sich und seinen Mitmenschen zurecht zu kommen. Heutzutage ist das Streben nach Gelassenheit auch ein wichtiges Ziel in Suchttherapien.

Sind Männer von Impulsivität besonders betroffen?

Die Alltagserfahrung lehrt, dass Männer bei den Emotionen Wut und Ärger leichter erregbar sind, aber auch Vorteile in der Erreichung von innerer Ruhe, Ausgeglichenheit und Gelassenheit zeigen. Durch empirische Studien ist dies jedoch nicht belegt, was vor allem an den großen Unterschieden innerhalb der Geschlechter und den erheblichen interkulturellen Varianzen liegen dürfte. Im vorliegenden Beitrag beziehe ich mich schwerpunktmäßig auf Männer, die aufgrund eigener Probleme mit hoher Impulsivität (Wut, Ärger, schnelle Provozierbarkeit) ein spezielles Interesse an Emotionsregulation und Gelassenheit haben und darin Fortschritte und Meisterschaft erzielen wollen. Nicht gelingende Selbstkontrolle der eigenen Impulsivität ist häufig mit negativen psychischen Folgen, insbesondere Vereinsamung und Sucht (vgl. Impulsivität und Sucht – Ursachen, Folgen, Zusammenhänge), verbunden. Gerade suchtkranke Männer (vgl. Sucht bei Männern – zentrale Ursachen, geschlechtssensible Hilfen und mehr Prävention) zeigen häufig ein starkes Maß an impulsiven Verhaltensweisen in den Bereichen Wut, Ärger und Aggression. Sie zeigen auffällige Probleme mit Frustrationsbewältigung und Emotionskontrolle (Männer, Gefühle und Sucht – eine schwierige Beziehung?). 

Kurze Geschichte der stoischen Lehre

Bei der heutigen Beschäftigung mit dem Thema Gelassenheit stößt man auf lebendige, jahrtausendealte Traditionen: Am bekanntesten ist die altgriechische und später römische Tradition der Stoa. Als Begründer gilt Zenon von Kition (333/332 v. Chr. Bis 262/261 v. Chr.), der im Jahre 301 v. Chr. die auf Tugendhaftigkeit und Vernunft basierende stoische Lehre in Athen begründete. Der Stoizismus stellt eine umfassende lebenspraktische Philosophie dar, die durch tägliche Übung zu Gelassenheit, Zufriedenheit und Wohlbefinden im Alltag führt. Bei der Gelassenheit geht es darum, emotionale Negativexzesse, die nicht hilfreich sind, in Bezug auf Personen oder Situationen zu vermeiden. Das Ziel ist nicht emotionale Abstumpfung oder die Verneinung des Emotionalen. Gerade für Personen, die zur Impulsivität neigen, kann Gelassenheit ein wichtiges Ziel zur Selbstregulation sein. 

Zentrale Inhalte der Lehre sind, dass es Ziel des Menschen sein müsse,

(1) tugendhaft zu leben und nicht Spielball seiner Begierden zu sein. Zenons Kathekon-Lehre (griech. das Zukommende, Angemessene) bezeichnet in der stoischen Ethik allgemein die sittlich gebotenen bzw. relevanten Handlungen.

(2) den Lebensereignissen – insbesondere den negativen und kritischen – mit einer innerlich ruhigen, souverän-gelassenen Haltung zu begegnen. Diese besonnen-gelassene Haltung entsteht durch das Befolgen der zentralen Tugenden im Alltag. Die Realisierung von Gelassenheit im Alltag wurde später als stoische Haltung schlechthin bekannt. 

(3) Das wichtigste Ideal der Philosophie von Zenon ist die Apatheia. Darunter wird die die Abwesenheit störender, den Einzelnen dauerhaft belastenden Affekten verstanden. Der Mensch soll sich nicht von seinen Stimmungen regieren lassen. Apatheia bedeutet wörtlich „Abwesenheit bzw. Freiheit von Leiden“. Dies ist nach Zenon am besten zu erreichen durch inneren Abstand zu Gefühlen wie Trauer, Wut und Zorn einerseits sowie Lust und Begierde andererseits.

(4) Durch Kontrolle seiner überschießenden und letztlich unangemessenen Affekte erwirbt der Stoiker aber nicht nur ausreichende Apatheia gegenüber Schicksalsschlägen und negativen Stimmungen, sondern auch die nötige Weisheit, um die Ereignisse auf der Welt und im eigenen Leben beurteilen und einordnen zu können. Es ist nicht Gleichgültigkeit, dass er sich von vielen, unkontrollierbaren Dingen und Ereignissen nicht aus der inneren Ruhe, bringen lässt, sondern ein Ergebnis tieferer Weisheit und damit ein Zeichen von Realitätssinn und Gelassenheit. 

Gelingende Weisheit schafft eine andere, tiefere Sicht auf die Dinge und erlaubt eine Beruhigung überschießender Emotionen. Der Mensch ist dadurch nach stoischer Ansicht ein zur Vernunft fähiges Wesen, dem es prinzipiell möglich sei, herrschaftsfrei und somit vollkommen selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu leben.

Auch dem Buddhismus – als noch ältere Tradition als der Stoa- ist das Streben nach Ausgeglichenheit und der Mitte, was ebenfalls Gelassenheit umfasst, sehr zentral. Besonders für Menschen mit extremen Stimmungslagen kann Gelassenheit als der mittlere Weg in Form balancierten Lebens sehr hilfreich sein. Eine tiefe innere Ruhe und Ausgeglichenheit weil es sie in die Mitte der Affektlagen und damit zu Stabilität führt. 

Gelassenheit und Besonnenheit

Im Alltag werden die Begriffe Gelassenheit und Besonnenheit oft synonym verwendet. Dabei gibt es wichtige Unterschiede zwischen beiden. 

Gelassenheit:

  • Gelassenheit entspricht einer ruhigen und entspannten inneren Geisteshaltung, insbesondere in hoch stresshaften oder fordernden, komplexen Situationen.
  • Gelassenheit führt zu einem speziellen Gefühlsausdruck, der gegenüber Stress, Hektik, Panik und Hysterie schützt.
  • Eine gelassene Person bewahrt ein hohes Maß an innerer Ruhe und lässt sich nicht leicht von äußeren Umständen aus der Fassung bringen. Auch die Wiedergewinnung der inneren Ruhe nach einem Verlust der Selbstkontrolle kann ein wichtiges Ziel sein.
  • Gelassenheit impliziert eine Akzeptanz der Dinge, wie sie sind, wenn sie als unveränderlich erkannt werden und die Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen einen klaren Kopf ohne überschießende Emotionen zu bewahren.

Kurz: Gelassenheit ist die Fähigkeit, das zu ertragen, was nicht verändert oder vermieden werden kann, und das zu erledigen, was getan werden muss, ohne dabei den inneren Frieden zu verlieren (sinngemäß nach Epiktet).

Besonnenheit:

  • Besonnenheit bezieht sich auf die Fähigkeit, in schwierigen oder kritischen Momenten klug und überlegt zu handeln.
  • Eine besonnene Person zeigt einen ruhigen und bedachten Umgang mit Entscheidungen, selbst und gerade unter starkem Druck.
  • Besonnenheit schließt Antizipation der Konsequenzen des eigenen Handelns, rationale Analyse und eine sorgfältige Herangehensweise an Probleme ein.

Kurz: Besonnenheit ist die Fähigkeit, innere Gelassenheit in schwierigen Situationen mit anderen Menschen zu verwirklichen. 

Zusammenfassend kann man im Vergleich sagen, dass Gelassenheit mehr auf die emotionale Reaktion und innere Ruhe abzielt, während Besonnenheit sich stärker auf die äußere Handlungsweise und die Fähigkeit zur klugen Entscheidungsfindung bezieht. Beide Eigenschaften gehen jedoch Hand in Hand und sind nützlich für emotionale Ausgeglichenheit, Zufriedenheit und sozialen Frieden mit anderen. Gelassenheit und Besonnenheit sind gerade heutzutage wichtig, wo Emotionen – wie Empörung, Hass und Hetze – an vielen Stellen geschürt und verstärkt werden. Sie sollten durch tägliche Selbstreflektion und Praxis eingeübt und vertieft werden.

Besonnenheit und Gelassenheit: Die wirkmächtigen Zwillinge gegen zu viel Impulsivität

In der griechischen Philosophie galten Besonnenheit und Gelassenheit als die wirkmächtigen Gegenteile von Unbeherrschtheit und Hitzköpfigkeit, den zentralen Aspekten von Impulsivität. Besonnenheit zielt auf den kognitiven Anteil, Gelassenheit auf den emotionalen Anteil des Gegenteils von Impulsivität hin. Insofern sind Besonnenheit und Gelassenheit auch wichtige Ziele in der Therapie der Sucht (vgl. Impulsivität und Sucht – Ursachen, Folgen, Zusammenhänge).  

Besonnenheit (altgriechisch: Sophrosyne) bezeichnet dabei, im Unterschied zur Impulsivität, die rational überlegte Gelassenheit als Zeichen der Selbstkontrolle, die einem – besonders auch in stressigen oder heiklen Situationen – den Verstand und die Verhaltenskontrolle behalten lässt, um vorschnelle, unüberlegte und selbst- oder fremdschädigende Entscheidungen oder Taten zu vermeiden. Während Besonnenheit auf den rationalen Aspekt des Denkens und Handelns hinweist, fokussiert Gelassenheit auf die Vorteile kontinuierlicher innerer Ruhe. Diese Gelassenheit – in Kombination mit Besonnenheit – begründete in der griechischen Philosophieschule der Stoa eine mächtige, jahrtausendealte Tradition, die auch für heutige Lebensregeln nach wie vor wichtig ist. In der Geschichte der Psychotherapie hat die stoische Philosophie zur Begründung der kognitiven Verhaltenstherapie (Albert Ellis, Aaron T. Beck) geführt. Auch im Bereich der Suchtselbsthilfe, insbesondere im Rahmen der 12-Schritte-Programme (AA, NA usw.) spielt das Erreichen von Gelassenheit eine besonders große Rolle. Insbesondere wichtig wurde das in AA-Gruppen oft rezitierte Gelassenheitsgebet: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“ (vgl. Gelassenheitsgebet).

Übung zur Förderung von Gelassenheit für Suchtkranke

Überlege, was Dich in Deinem Alltag als suchtkranker Mensch besonders frustriert und ärgert! Das kann sich auf Dich selbst, Deine Partnerin, Deinen Arbeitskontext, Deinen Umgang mit Suchtmitteln oder anderes beziehen. Notiere als Auftakt 3 Punkte! Schaue Dir diese 3 Punkte ganz genau an und überlege dazu Folgendes: Was davon kannst Du aus eigener Kraft verändern bzw. nicht verändern? Werde Dir etwa darüber klar, dass Du das Verhalten und die Persönlichkeit anderer nicht verändern kannst. Deinen Ärger darüber schon. Und dafür bist Du auch verantwortlich, nämlich Deinen Ärger zu bewältigen. Dazu wiederum gibt es viele Möglichkeiten. Dein Denken und – in der Folge – Deine Gefühle kannst Du selbst verändern, Deine Partnerin nicht! Ob sie sich verändert, wenn Du Dich veränderst, ist eine Möglichkeit, aber auch das liegt nicht in Deiner Hand, ist also nicht sicher. 

Wie ist es mit Deinem Umgang mit Suchtmitteln? Ärger mit der Partnerin, mit Kollegen oder Vorgesetzten sollte kein Auslöser für Konsum von Alkohol oder Drogen sein. Der Ärger alleine ist schon unpassend, weil er sich auf unveränderliche Dinge – das Verhalten anderer Personen – bezieht. Nur Du kannst Dich verändern! An dieser Stelle kannst Du nur Deinen Umgang mit Deinem Ärger und dem Suchtmittel verändern. Kein noch so großer Ärger kann Auslöser für Rückfälligkeit sein! Er sollte Anlass zur Veränderung der eigenen Emotion sein. 

Nun beginne mit Deiner Selbstreflektion, was Dich frustriert und ärgert! Wenn Du etwas gefunden hast, was Du selbst verändern kannst, schreibe dazu, wie diese Veränderung bei Dir geschehen kann und beginne direkt damit, es zu praktizieren! Ziehe an jedem Abend eines Tages eine Bilanz, wie gut Dir die Veränderung heute gelungen ist! Spare nicht mit Lob für Dich, wenn es gut gelaufen ist!
Die Dinge, von denen Du erkannt hast, dass Du sie nicht verändern kannst, lasse sie los, verabschiede Dich von Deinem falschen Anspruch und genieße die Freiheit und die Stressreduktion, die Du dadurch erlangt hast! Praktiziere ihnen gegenüber Gleichmut und inneren Abstand, so dass Deine ganze Energie in die Dinge fließt, die Du tatsächlich verändern kannst!   

Fünf Merksätze zu Gelassenheit im Alltag

  1. Gelassenheit und andere stoische Tugenden müssen im Alltag kontinuierlich eingeübt und praktiziert werden
  2. Gelassenheit ist ganz und gar nicht gleichzusetzen mit Gleichgültigkeit oder Dickfelligkeit
  3. Die emotionale Kontrolle zu verlieren (etwa in Form von Schreien, Toben, Schlagen), ist ein Zeichen von Schwäche und zugleich Anlass, die eigene Gelassenheit zu stärken
  4. Die Kunst, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden, und danach zu handeln, ist eine zentrale, unerlässliche Basis für Gelassenheit
  5. Gezielt und konsequent mit innerer Ruhe zu handeln, ist wichtigstes Ziel. Daraus entsteht am Ende Mut und Disziplin.

„Das Glück Deines Lebens hängt von der Beschaffenheit Deiner Gedanken ab. … Du hast die Macht über Deinen Geist, nicht über äußere Geschehnisse. Erkenne das, und Du wirst Stärke finden“. Marc Aurel (Philosoph und römischer Kaiser, 121 – 180 n. Chr.)

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