Selbstfürsorge für Fachkräfte in der Suchthilfe – da geht noch mehr!¹

Zusammenfassung: Die Gesunderhaltung der Fachkräfte im Feld der Suchthilfe ist ein wenig bislang beachtetes Thema der Suchtforschung und Suchthilfepraxis. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine Tätigkeit in der Suchthilfe von niedrigschwelligen Hilfen, über Beratung bis hin zu Therapie und Nachsorge durch vielfältige Anforderungen an professionelle und persönliche Ressourcen gekennzeichnet ist. Die Besonderheiten der Klientel, von Abwehr, Verleugnung, Fremdmotivation über Armut, Marginalisierung, Überlebensnot bis hin zu bisweilen auch Antisozialität und Aggressivität, erscheinen als schwerwiegende Stressfaktoren, auch für die Fachkräfte. Die vorliegenden empirischen Studien zum Berufsfeld „Suchthilfe“ zeigen jedoch, dass bei vorhandenem hohen Stresserleben die psychische Gesundheit und Berufszufriedenheit insgesamt günstig beurteilt werden. Dies kann mit Selbstselektionseffekten, günstigen intrinsischen Motivationslagen und frühen Ausstiegen aus der Tätigkeit in der Suchthilfe zusammenhängen. Als präventive und gesundheitsförderliche Maßnahmen werden besonders kontinuierliche Selbstfürsorge und Stressmanagement empfohlen. Dafür gibt es zahlreiche Anwendungen von Achtsamkeit, Entspannung, kognitivem Training, Intervision und Aktivitäten zur Erhaltung der Work-Life-Balance. 

¹ Dies ist die erweiterte Fassung eines kürzeren Beitrags „Selbstfürsorge für Fachkräfte in der Suchthilfe…“ aus der Zeitschrift RAUSCH – Wiener Zeitschrift für Suchttherapie, 2023, 12. Jahrgang, Heft 1-2, S. 111 – 117.

Self-Care for Addiction Therapists – Problem Constellations, Research Results, Solutions

Summary: Keeping health measures for addiction treatment specialists rarely is a theme in addiction research and practice. Basically, personnel in addiction treatment facilities underlies a high level of emotional and psychological stress. The peculiarities of the addicted clientele, especially denial, external motivation, poverty, marginalization, and sometimes also antisocial and aggressive behaviors, appear as heavy stressors for the therapists and counselors in the field. Empirical studies in the addiction treatment domain, however, show that despite of high stress levels experienced by the personnel mental health und occupational satisfaction are rather good. The reasons therefor might be self-selection of the personnel as well as early drop-outs of unsatisfied therapists. In order to establish preventive and health promoting measures especially continuous self-care and stress management should be applied. In detail, these might encompass mindfulness and cognitive reframing training, relaxation, intervision, and efforts for the improvement of work-life-balance.

Einleitung

Die Situation, Symptomatik und Entwicklungsgeschichte suchtmittelabhängiger Menschen sind häufig Gegenstand der Suchtforschung. Demgegenüber wird dem Befinden der im Suchthilfesystem tätigen Fachkräfte deutlich seltener Beachtung geschenkt. Suchthilfesystemforschung muss die Lage der im System Tätigen stärker berücksichtigen, als dies bislang der Fall ist. Deshalb wird in diesem Beitrag die Situation der in der Suchthilfe tätigen Fachkräfte hinsichtlich Stress und Gefährdungen einerseits und Ressourcen sowie Selbstfürsorge andererseits beleuchtet. Dabei wird auf alle Felder der professionellen Suchthilfe, ambulant wie stationär, niedrigschwellig wie hochschwellig, fokussiert.

Stand der Forschung

Chronische Überforderung und Burnout stellen für Fachkräfte im Bereich der Suchthilfe ernst zu nehmende Probleme dar (Reissner, 2008), welche sich vor allem durch den engen und häufig belastenden Kontakt zur Klientel ergeben, welches oft mit Abwehr und Aggressivität auftritt. Suchtfachkräfte erfüllen in besonderer Weise die Charakteristika sogenannter „High-touch“-Berufe mit vielen und engen Kontakten zur Zielgruppe. Empathie und psychische Intimität sind in der Suchthilfe in besonderer Weise gefragt. Aber auch suboptimale bis defizitäre Arbeitsbedingungen und die zunehmende Arbeitsverdichtung können zu den genannten Problemen führen. Die Arbeit im Bereich der Suchthilfe ist eine mental und emotional sehr anspruchsvolle Tätigkeit, die aufgrund der oftmals sozial und psychisch bedürftigen und anspruchsvollen Klientel als belastend, stressig und frustrierend erlebt wird (Fengler, 2012). Spezielle Merkmale von Suchtpatienten, die in die wahrgenommenen Belastungen der Suchtfachkräfte einfließen, sind u.a. die oftmals fehlende Behandlungs-, Veränderungs- und Abstinenzmotivation, häufige Rückfälle, Aggressivität, Narzissmus, Distanzlosigkeit sowie ein hohes Ausmaß volatilen und damit unberechenbaren Verhaltensweisen. Zudem können aber auch strukturell negative Bedingungen am Arbeitsplatz (Unterfinanzierung), politisch-administrative Rahmenbedingungen und allgemeine Merkmale der therapeutischen Arbeit (z.B. asymmetrische Hilfebeziehung des Therapeuten zum Patienten) übermäßigen Stress und Burnout der Suchtfachkräfte begünstigen. Immer wieder wird auch berichtet, dass die in der Suchthilfe Tätigen starke emotionale Gegenübertragungen erleben, die sich auf ihre Klientel beziehen. Zusätzlich werden sie in der Öffentlichkeit auch mit Haltungen und Verhaltensweisen identifiziert, die für ihre Klientel charakteristisch sind, wie z.B. Unberechenbarkeit, Abwehrhaltung und Antisozialität. Als Symptome der besonders stresshaften Arbeitsbedingungen in der Suchthilfe wurden starke emotionale Erschöpfung bei den Fachkräften und eine hohe Fluktuationsquote für bestimmte, vor allem niedrigschwellige Arbeitsfelder, identifiziert. 

Psychische Gesundheit von Suchtfachkräften

Eine der bislang größten durchgeführten Studien, in die Daten aus Suchtfacheinrichtungen in sechs europäischen Großstädten einflossen, von Reissner (2008) zu Burnout und Coping von Suchttherapeuten hat eruiert, dass knapp 30 % der Suchthelfer unter einem ausgeprägten Burnout-Syndrom leiden. Des Weiteren kam die Studie zu dem Ergebnis, dass männliche Suchthelfer ein höheres Burnoutrisiko aufweisen als weibliche und demgegenüber Lebensalter und Dauer der Berufszugehörigkeit keine relevante Rolle spielen. 

Darüber hinaus weisen subgruppenspezifische Studienergebnisse darauf hin, dass bei stationär Tätigen im Suchthilfesystem im Unterschied zu Fachkräften im ambulanten Bereich sowie bei der Arbeit mit Drogenabhängigen im Vergleich zu Alkoholabhängigen erhöhte Burnout-Ausprägungen festzustellen sind. Der niedrigschwellige Hilfebereich ist eher von Unstetigkeit und Gewalterleben gekennzeichnet als der hochschwellige Suchthilfebereich.

Was hilft gegen Burnout?

Bei den Präventionsbemühungen gegen Burnout und Hyperstress haben sich Selbstfürsorge und Stressreduktion im Allgemeinen als wichtigste Methoden erwiesen. Deshalb werden diese Ansätze im Folgenden näher betrachtet.

(1) Unter Selbstfürsorge wird üblicherweise verstanden, dass Menschen sich so verhalten, dass es ihnen kurz- und vor allem langfristig gut geht, sie ihr Wohlbefinden steigern, dass sie ihre Ressourcen fördern, Resilienzen aufbauen und damit insgesamt ihre psychische und physische Gesundheit erhalten und auch fördern. Dem Thema der Selbstfürsorge wird insbesondere in der Positiven Psychologie und in der Gesundheitspsychologie viel Aufmerksamkeit gewidmet. Einer gesunden Selbstfürsorge stehen dysfunktionale Haltungen und Verhaltensweisen entgegen, welche die Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse und die Verleugnung sowie Unterdrückung von belastenden Emotionen beinhalten. Diese Verhaltensmuster entsprechen oft der klassischen Männerrolle, so dass die bereits erwähnte stärkere negative Betroffenheit männlicher Suchtfachkräfte hiermit in Zusammenhang stehen könnte. 

Insbesondere die Nicht-Einhaltung von Belastungsgrenzen, die Unfähigkeit zum Nein-Sagen, ein sich gewohnheitsmäßiges Aufopfern, mangelnde Abgrenzung gegenüber Ungerechtigkeiten und psychischen Stressoren können zu negativen Gesundheitsfolgen, vor allem auf psychischer Ebene, führen. Nicht kontrollierbare Stressoren mit hohem negativem emotionalem Gehalt (z.B. Ungerechtigkeit, Abwertung, Demütigung) gelten als besonders riskant für die psychische Gesundheit. 

(2) Stressreduktion bzw. Stressmanagement umfasst den gelingenden Umgang mit Stressoren. Meist geht es um die Reduktion übermäßig starker und zu vieler vorherrschender Stressoren und die Bewältigung i.S. von erfolgreicher Meisterung vorhandener bzw. verbleibender Stressoren. Da Stressbewältigung neben der objektiven Reduktion von Stress, wie z.B. Lärm, extreme Arbeitsverdichtung usw., ganz überwiegend auf die subjektiven Qualitäten von Stress abzielt, sind vor allem weniger angstvolle und bedrohliche Bewertung von Stressoren und die Förderung der Bewältigungszuversicht Zielgrößen. Personen, die den täglichen Anforderungen positiv gegenüberstehen und davon ausgehen, dass sie diese erfolgreich bewältigen können, zeigen sich durchgängig psychisch stabiler und gesünder.

Selbstfürsorge und Stressreduktion: Die Gesundheitsförderer für Fachkräfte in der Suchthilfe

Die beschriebenen Mechanismen gelten grundsätzlich für alle Menschen. In sämtlichen Lebensphasen und -lagen sind nach heutigem gesundheitspsychologischem Denken Selbstfürsorge und Stressreduktion von entscheidender Wichtigkeit zur Erreichung und Erhaltung der psychischen Gesundheit. 

Es zeigen sich in der Suchthilfelandschaft immer wieder auch mentale Strategien zur Gesundheiterhaltung, die Beiträge zur Stressreduktion leisten können. Diese reichen von spirituellen Ansätzen bis hin zu politischen Haltungen. Einerseits können humanistische, christliche oder andere weltanschauliche oder spirituelle Denkweisen den Alltagsstress in der Suchthilfe reduzieren oder einfach nur erträglicher machen. Immerhin liegen die Wurzeln der Suchthilfe in der diakonischen Bewegung des 19. Jahrhunderts. Andererseits teilen Fachkräfte in der Suchthilfe politische und gesellschaftliche Haltungen, die ihnen Solidarität und Teilhabe mit den betroffenen Suchtkranken nahelegen. Auch dies kann zu einer veränderten Sicht auf die alltägliche Arbeit führen. Tendenziell können sich nach Brentrup (2006) in Suchthilfeeinrichtungen Strukturen der Klientel implizit auf die Mitarbeiterschaft übertragen. Diese als isomorph bezeichneten Strukturähnlichkeiten beziehen sich auf die Kernmerkmale der Sucht, wie z.B. Exzessivität, Kontrollverlust, Abwehr, Scham, Verleugnung usw. Es handelt sich dabei um ein plausibles, aber bislang empirisch nicht bewiesenes Konstrukt.

Aufblühen – die Grundlagen eines zufriedenen, erfüllten Lebens

Der amerikanische Psychologe Martin Seligman, der als Begründer der Positiven Psychologie gilt, formulierte auf der Basis langjähriger Forschungen zur psychischen Gesundheit von Menschen das PERMA-Modell. Dieses beschreibt, wie Personen zu dauerhaftem Wohlbefinden und psychischer Gesundheit kommen können. Das Akronym PERMA setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der fünf Basiselemente für psychische Gesundheit zusammen. Sie lauten: 

  1. Positives Gefühl: Fähigkeit zum häufigen Empfinden positiver Gefühle, verbunden mit der Fähigkeit zu Humor
  2. Engagement: Fähigkeit, sich für Ziele einzusetzen
  3. Positive Beziehungen: Fähigkeit zu positiven, emotionalen Beziehungen zu Partner und Freunden
  4. Sinn (Meaning): sinnvolles Erleben und Handeln, Verfolgen persönlich wichtiger Werte
  5. Zielerreichung (Accomplishment): Fähigkeit, gesetzte Ziele dauerhaft zu verfolgen und zu erreichen.

Wenn diese fünf Elemente im Leben von Menschen vorhanden sind, ist von einer balancierten psychischen Gesundheit und einem überwiegenden Wohlbefinden auszugehen. Dies führt dann zu einem kontinuierlichen „Flourishing“, einem Aufblühen der gesamten Person. Das Flourishing dient der Entwicklung der eigenen Talente und Potentiale und macht den Menschen auch zu einem sozialen Mitmenschen auf der Basis eines eigenen stabilen Selbst. Wichtig ist dabei das Vorhandensein eines positiven Selbstwertgefühls. Dieses ergibt sich aus der Verwirklichung aller fünf Elemente des PERMA- Modells. Das PERMA-Modell stellt eine wichtige Grundlage zur Förderung der psychischen Gesundheit auch für Fachkräfte in der Suchthilfe dar. 

Selbstfürsorge in der Suchthilfe

Für Fachkräfte in Humandienstleistungsberufen im Allgemeinen und in der Suchthilfe im Besonderen ergeben sich aus ihrem Berufsfeld Notwendigkeiten, ihre psychische Gesundheit proaktiv zu bewahren und zu entwickeln, die im Folgenden hinsichtlich der Notwendigkeiten und Möglichkeiten zur Selbstfürsorge und Stressreduktion erörtert werden. Auch wenn hier vielerorts schon ein sensibilisiertes Problembewusstsein besteht, gilt – gerade in schwierigen Zeiten von Pandemie, Flucht und Inflation – der Leitsatz „da geht noch mehr!“.

Viele gesundheitspsychologische Ansätze zur Selbstfürsorge betonen die Vorteile der Balanciertheit der Lebensrealität der Betroffenen. Dies wurde auch unter dem Konzept der Life-Work-Balance bekannt. Schon länger herrscht in der populären Vorstellung von Suchttherapie das Bild, dass Suchttherapeuten besonders unter ihrer Tätigkeit leiden müssten. Dieses Leiden würde von den extrem starken Problemen ihrer Klientel und deren vielfachen Rückfällen sowie Motivationsproblemen verursacht und könnte die Fachkräfte beschädigen, so das landläufige Stereotyp. Zwar berichten 90% der befragten 225 Suchtfachkräfte (Wortberg et al., 2012), dass sie ihre Tätigkeit psychisch belastend finden. Doch den meisten gelingt es nach eigenen Angaben auch, diese Belastungen zu verarbeiten. Besonders kollegialer Austausch, Intervision, Supervision und Coaching sind hilfreich. Andererseits berichten nur 6%, dass sie mit ihrer Arbeit in der Suchthilfe nicht oder überwiegend nicht zufrieden seien. Die Tätigkeit in der Suchthilfe scheint also ein hohes Maß an Zufriedenheit zu bringen. Dies wird nach Auskünften der Befragten vor allem durch Sinnerfülltheit und den Eindruck der subjektiven Nützlichkeit der Arbeit erzeugt. Selbstfürsorge bedeutet kurzfristig Selbstoptimierung und ein Zurechtkommen mit den jeweiligen Anforderungen. In einem tieferen Sinn jedoch stellt Selbstfürsorge Sinnsuche und Sinnfindung dar. Da viele Fachkräfte von Sinnerfülltheit im Rahmen ihrer Tätigkeit in der Suchthilfe berichten, kann angenommen werden, dass die Suchthilfe überwiegend gute Bedingungen für eine fundierte Selbstfürsorge bietet, wenn die Betroffenen sich dabei nicht selbst verlieren. 

Selbstfürsorge für Suchttherapeuten – da geht konkret noch mehr!

Wie kann die alltägliche Selbstfürsorge für Suchttherapeuten aussehen? Sie besteht zu einem nicht geringen Teil aus gesundheitsförderlichen Routinen. Hierzu einige Beispiele: Morgendliche mentale Vorbereitung auf den täglichen Einsatz, am Morgen Handlungen zum Wohlbefinden ausführen, den Tag langsam beginnen lassen, sich angenehme Gedanken machen, nicht direkt an die Arbeit denken, Naturerleben genießen, mit dem Hund Gassi gehen oder mit der Katze spielen (falls Haustiere vorhanden sind), mit der Partnerin oder im Selbstgespräch positive Themen ansprechen, durch Sport für Klarheit im Kopf sorgen uvm. 

Auf der Arbeit geht es dann weiter: Nicht in Hektik und Stress verfallen. Die Dinge eines nach dem anderen angehen. Nicht unter Druck geraten, weder von Kollegen noch von Vorgesetzten und auch nicht von Patienten. Eine positive und ausgeglichene Stimmung bewahren – wenigstens die meiste Zeit. Den Humor im Alltag nicht vergessen! Bei Krisen die Ruhe bewahren, Unterstützung holen, den Austausch suchen. Nicht alles alleine machen wollen. Im Alltag von Suchttherapie, Suchtberatung und anderen suchtbezogenen Hilfen mit anderen Fachkollegen den Austausch pflegen, auch Genusssituationen auf der Arbeit gestalten, Zeit für Reflektion und Gespräch haben. 

An den Abenden und Wochenenden sowie im Urlaub genügend Zeit und Gelegenheit zur Rekreation und persönlichen Weiterentwicklung haben. Sport, Bewegung, Kreativität und Genuss nicht vergessen. 

Wie lässt sich die gesundheitspsychologische Balance herstellen?

Neben den gesundheitsförderlichen Ressourcen im Arbeitsbereich erweisen sich besonders die Ressourcen in der Familie und im Freizeitbereich als relevant. Starke Belastungen in der Arbeit können mit positiven Erlebnissen in diesen Bereichen kompensiert werden. Aber auch umgekehrt können Stressphasen im Privatbereich mit positiven Erfahrungen in der Arbeitswelt ausgeglichen werden. Auch darin kann eine Form der Life-Work-Balance gesehen werden. Es ist wichtig, dass sich auf die längere Sicht eine Balance der Stressfaktoren im Leben der einzelnen Fachkräfte einstellt, die durch vorhandene oder neu zu gewinnende Ressourcen erzeugt wird. Bei der Neuetablierung von gesundheitlich positiven Ressourcen spielen die Aus- und Weiterbildung von Suchtfachkräften sowie die Einarbeitung und das Mitarbeiterfeedback beim Arbeitsplatz eine wichtige Rolle. Diese sollte von den Verantwortlichen unbedingt erkannt und wahrgenommen werden. So sollten die Träger von Fachdiensten der Suchthilfe (ambulant, stationär) genauso an einer langfristigen Gesundheitsstrategie für die Fachkräfte arbeiten wie die Ausbildungsinstitutionen (Hochschulen, Therapieausbildungsinstitute). Nur wenn Gesundheitsförderung dauerhaft sowohl Teil von Aus- und Weiterbildung als auch betrieblicher Alltagsrealität darstellt, wird es zur Nachhaltigkeit dieses Ansatzes für alle kommen.

Eine durchgängig starke Belastung mit psychischen Problemen kann bei der großen Mehrheit der Suchtfachkräfte nicht gefunden werden (Wortberg et al., 2012). In Feldstudien zur psychischen Gesundheit von Suchtfachkräften zeigt sich (Kuhn et al., 2017), dass nur etwa ein Fünftel unter relevanten psychischen Problemen, wie Depressivität, negativem Selbstwertgefühl oder Ängsten, leidet. Dieses Phänomen könnte – zumindest teilweise – in einer Selbstselektion der Fachkräfte begründet sein, die darin besteht, dass besonders belastbare, resiliente Personen in das Tätigkeitsfeld gehen bzw. dort verbleiben. Andererseits ist es aufgrund der hohen Zufriedenheitswerte wahrscheinlich, dass durchaus eine gute Anpassung und Bewältigung an die Praxisanforderungen geschieht.

Vorsicht bei starken negativen Gegenübertragungen

Suchtfachkräfte bekommen von ihrer Klientel oft wenig direkte positive Rückmeldungen. Vor allem am Anfang der Behandlung haben sie es mit viel Widerstand und kognitiver Abwehr seitens der Betroffenen zu tun. Dies fühlt sich oft wie ein krampfhaftes Überzeugen-Müssen an und führte in der traditionellen Suchthilfe zu problematischen Gegenübertragungen von Entmündigung, Zwangsmaßnahmen bis zu Entpersonalisierung der Suchtkranken. Unter Gegenübertragungen werden psychoanalytisch und tiefenpsychologisch die emotionalen Reaktionen auf die besonders problematischen Verhaltensweisen eines Patienten verstanden. Diese sind oft unbewusst und entstehen automatisch, sollten aber unbedingt reflektiert und kontrolliert werden. Zu den emotionalen Reaktionen der Suchttherapeuten gehören in solchen Situationen vor allem Wut, Ärger, Traurigkeit und Niedergeschlagenheit. In der Folge können bei unkontrollierten Gegenübertragungen Bestrafungswünsche und Disziplinierungsideen aufblühen. Erst mit der Entwicklung des Motivational Interviewing haben die Suchtberater und -therapeuten ein Instrument in der Hand, das es ihnen auf der Basis einer empathischen und akzeptierenden Haltung ermöglicht, den Nähe-Distanzkonflikt zu ihren Suchtpatienten neu zu bewerten und zu gestalten. 

Balance ist in der Selbstfürsorge für Therapeuten besonders wichtig

Suchtberater und -therapeuten spielen darüber hinaus, was ihre eigene Selbstfürsorge (vgl. Kalbheim, 2022) angeht, für ihre Klienten eine besonders wichtige Rolle. Sie werden dabei als Modell für geeignete Selbstfürsorge und gelingenden Umgang mit Stresssituationen wahrgenommen. Insofern hat die gelingende Bewältigung des Alltagslebens in der Suchthilfe auch eine Modellfunktion auf die Klientel. Wichtig ist, dass Suchttherapeuten und -berater die für sie geeignete Selbstfürsorge nicht nur im Sinn haben, sondern diese auch erkennbar erfolgreich praktizieren. Die Balance aus Nähe und Distanz, die in der Arbeit mit Suchtkranken so wichtig ist, beeinflusst auch die psychische Gesundheit der Suchtfachkräfte. Eine gute Balance aus den Polen Nähe und Distanz ist dabei genauso wichtig wie die Balance zwischen anderen Polen im Leben der Fachkräfte. Als solche sind Arbeit und Freizeit, Arbeit und Familie, Aktivität und Entspannung, positive und negative Emotionen sowie Außenwelt und Innenwelt zu benennen. 

Insgesamt beurteilen in den vorliegenden Untersuchungen mit ca. 85% die Fachkräfte in der Suchthilfe – vor allem aus ambulanter Beratung und stationärer Therapie – ihre eigene psychische Situation als positiv (Wortberg et al., 2012; Kuhn et al., 2017). Dazu tragen vor allem die Sinnerfüllung durch die Tätigkeit, eine wahrgenommene hohe Arbeitsplatzsicherheit und gute Möglichkeiten zum kollegialen Austausch bei. Die meisten berichten über ein aktives Freizeitleben, ein zufriedenstellendes soziales Netzwerk und eine sinnerfüllte Tätigkeit. Nicht zu vergessen ist die wichtige Rolle des Humors zur Bewältigung von schwierigen und stresshaften Situationen im Alltag (vgl. Kalbheim, 2022).

Selbstfürsorge braucht individuelle Lösungen

Neben den erwähnten allgemeinen Hinweisen zur Selbstfürsorge und Stressreduktion für Fachkräfte ist es wichtig, die Maßnahmen auf den individuellen Arbeits- und Lebenskontext zu übertragen. Ein Berufsanfänger praktiziert dabei andere Lösungen als eine Fachkraft, die kurz vor der Berentung steht. Ein alleinlebender Suchttherapeut muss eine andere Balance im Leben finden als eine Suchttherapeutin mit Partner und Kindern. Die differentielle Umsetzung der als wichtig erkannten Haltungen und Schritte ist also von besonderer Wichtigkeit.

Was an Selbstfürsorge für den einzelnen Suchttherapeuten geeignet und wirksam ist, kann im Einzelfall durchaus unterschiedlich sein und muss daher entdeckt und ausprobiert werden. Während der eine Aktivsport betreibt, wird der andere Entspannung und Meditation bevorzugen. Jeder Person sollte typabhängig identifizieren, welche Maßnahmen für sie zur Selbstfürsorge beitragen. Methoden sind dabei zwar wichtig, aber grundsätzlich geht es vor allem um die innere Haltung und die Bereitschaft, kontinuierlich und routinemäßig Selbstfürsorge zu fördern. 

Die wichtigsten Lebensbereiche, die als Quellen der Selbstfürsorge identifiziert werden können, sind (a) Partnerschaft und Familie, (b) Arbeit und Beschäftigung, (c) Freizeit und Rekreation sowie (d) Spiritualität und Religion.

Besonderheiten der Suchtpatienten in Therapie

Psychohygiene und Burnout-Prophylaxe sind wichtige Vorkehrungen für alle Psychotherapeuten. Der Beruf des Psychotherapeuten bringt es durch die hohe psychische und emotionale Intimität mit den Hilfesuchenden mit sich, dass Nähe, Engagement und Mitgefühl einerseits, aber auch Distanz und Abgrenzung andererseits gefordert sind und vor allem die Gratwanderung zwischen beiden Polen gelingen muss. Dabei weisen Suchtpatienten im Unterschied zu den meisten anderen Psychotherapiepatienten einige Besonderheiten auf, die für ihr Krankheitsbild charakteristisch sind. 

Diese Merkmale und ihre Auswirkungen auf die Helfer werden im Folgenden beleuchtet:
(1) Die anfängliche Motivationslage ist oft von Fremdmotivation, äußerem Druck und demonstrierter Abwehr gekennzeichnet. Suchtkranke zeigen dabei ein hohes Maß an Verleugnung, Lustlosigkeit und oft auch passiv-aggressivem Verhalten. 

(2) Behandlungsabbrüche sind häufig, so dass der Therapieprozess oft sehr diskontinuierlich und fraktioniert verläuft. Suchttherapeuten laufen Gefahr, den Abbruch einseitig auf sich zu beziehen und ihr Verhalten als inkompetent, fehlerhaft oder unpassend zu bewerten. Die Suchttherapeuten erhalten bei Therapieabbrüchen auch weniger Patientenfeedback und können die Auslöser für das Patientenverhalten oft nicht durchschauen. Es besteht somit die Gefahr, dass sich Schuldgefühle entwickeln.

(3) Durch die geltenden Therapieregeln („Abstinenzgebot“) im ambulanten und stationären Suchtversorgungssystem wird das Phänomen „Rückfall“, das bei Suchtkranken zum Veränderungsgeschehen, aber auch zur Basissymptomatik gehört, besonders stark betont, bisweilen mystifiziert und tabuisiert. Die Therapieregeln umfassen überwiegend immer noch Behandlungserschwernisse bis -verbote bei Rückfälligkeit des Patienten. Für die Suchttherapeuten ergibt sich das Problem, dass sie einerseits Rückfälle nicht wahrhaben wollen, weil das für ihre Patienten negative Konsequenzen hätte, oder dass sie andererseits bei Rückfälligkeit zu drakonisch reagieren. Das Symptom Rückfälligkeit wird somit für viele Suchttherapeuten zum zusätzlichen Stressfaktor, der ihnen Angst macht, die Unsicherheit erhöht und sie in Wertekonflikte bringt. Die Mehrheit der Suchttherapeuten lehnt aufgrund ihrer Haltung und des Berufsethos in der Psychotherapie einen dogmatisch-rigiden Umgang mit Therapiezielen, wie er durch die Leistungsträger in Deutschland immer noch im Hinblick auf den Suchtmittelrückfall praktiziert wird, ab.

(4) Je nach Behandlungsauftrag der Suchtfachkräfte ergeben sich unterschiedliche Anforderungs- und Belastungsprofile. Im niedrigschwelligen Bereich herrschen andere Bedingungen als in der Suchtrehabilitation. Das kann zu unterschiedlichen Wahrnehmungen des Arbeitsalltags und der Notwendigkeiten bezüglich Selbstfürsorge führen. Während im erstgenannten Bereich Überlebenshilfen und Alltagsbewältigung im Vordergrund stehen, werden im Beratungs- und Therapiebereich Veränderungen der Motivationslage und der Verhaltensgewohnheiten angestrebt. Dies führt auch zu unterschiedlichen Haltungen der Suchtfachkräfte und divergierenden Interaktionsformen, wobei Hilfen grundsätzlich von einem humanistischen Menschenbild geprägt sind. Die konkreten Haltungen der Fachkräfte können jedoch zwischen gesellschaftlicher Solidarisierung mit den Suchtkranken und Verantwortungsabgabe an die Betroffenen variieren. 

(5) Das Verhalten von Suchtpatienten bedeutet bisweilen eine Quelle starker Stressoren für Therapeuten, z.B. durch Aggressivität, Suizidalität, externale Schuldzuweisungen und Vorwurfshaltungen. Hinzu kommen oft Beziehungsprobleme, wie sie durch komorbide Persönlichkeitsstörungen auftreten können. Hier ist es für die Fachkräfte im Suchthilfebereich wichtig, jeweils eine passende Reaktion zu finden, Gelassenheit zu bewahren und die Balance zwischen Empathie und Konfrontation zu realisieren.

Hoffmann & Hofmann (2020) beschreiben solche Patienten als deprivierend. Sie fordern übermäßig viel von ihrem Therapeuten, ohne rollengerechte Gegenleistungen zu zeigen. Es handelt sich im Extremfall um eine Ausbeuterbeziehung, bei der die Suchtpatienten einseitig das Hilfeangebot des Therapeuten nutzen, ohne sich selbst ernsthaft einzubringen. Sie wollen den Therapeuten immer wieder dazu bringen, dass er etwas für sie tut (Entlastung von äußerem Druck bei Arbeitgeber, Partnerin, Gericht usw.), ohne dass sie sich selbst in relevanter Weise einbringen.

Fazit

Suchtkranke sind für die Behandler eine Herausforderung, was ihre Haltung und Reaktion angeht. Für viele Fachkräfte ist diese Herausforderung eine lebendige und zu bejahende Anforderung (vgl. Zito & Martin, 2021). Allerdings erfordert eine Tätigkeit in der Suchthilfe eine besonders qualifizierende Aus- und Weiterbildung, die Möglichkeit zur Selbstfürsorge und Stressreduktion im Rahmen einer gelingenden Work-Life-Balance. Die Vorbereitung auf eine Tätigkeit in der Suchthilfe muss besonders in den grundständigen Studiengängen der Sozialen Arbeit, Psychologie und Medizin vertieft und ausgebaut werden. Sind die Fachkräfte dann in einem Feld der Suchthilfe tätig, bedarf kontinuierlicher Möglichkeiten zur Erhaltung und Förderung der psychischen Gesundheit. Dabei sind sowohl die Fachkräfte selbst als auch die Arbeitgeber und Träger gefordert. 

(1) für Fachkräfte: 

Psychische Gesundheit in der Suchthilfe als PERMA-Thema im Sinne des beschriebenen Modells von Martin Seligman akzeptieren und internalisieren, nicht tabuisieren, proaktiv angehen. Permanente Achtsamkeit für die eigene Selbstfürsorge! Durch Selbstreflektion, sozialem Austausch, Sinnerfülltheit, Körperarbeit und Humor kann ein guter, dauerhaft stabiler Selbstschutz entstehen. Der Suchttherapeut muss eine tiefere Motivation zur Selbstfürsorge aufweisen bzw. entwickeln, eine Art Selbstempathie, mit der er sich erhält und fördert. Selbstfürsorge sollte sich als Haltung der Fachkräfte implizit internalisieren.

(2) für Vorgesetzte und Träger: 

Qualifizierte und gesunde Fachkräfte sind Ihr bestes Kapital. Bewahren und entwickeln Sie die psychische Gesundheit Ihrer Mitarbeiter kontinuierlich! Dies ist die beste Investition in die Zukunft Ihrer Institution. Klare Konzepte und Rituale sind hilfreich. Feedbacks und Förderpläne können unterstützen. Die Institutionen der Suchthilfe sollten die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter zum Top-Thema des betrieblichen Gesundheitsmanagements machen. Diese ist ihr „Kapital“. „Fürsorgliches Verwöhnen“ geschieht dabei am besten ohne, dass die Fachkräfte es bemerken, also eher als Haltung und Routine.

Literatur

Fengler, Jörg (2012; 8. überarb. u. erw. Auflg.). Helfen macht müde. Zur Analyse und Bewältigung von Burnout und beruflicher Deformation. Stuttgart: Klett-Cotta. 

Hoffmann, Nicolas & Hofmann, Birgit (2020, 3., überarb. Auflage). Selbstfürsorge für Therapeuten und Berater. Grundlagen und Anwendung. Weinheim: Psychologie Verlags Union PVU.

Kuhn, U., Graß, J. & Klein, M. (2018). Aktuelle Ergebnisse aus der vergleichenden Berufsfeldforschung: Psychische Belastungen und Burnoutrisiken im Handlungsfeld der Suchthilfe. Suchttherapie 19, 39 – 45. 

Reissner V. Burnout und Coping bei Suchttherapeuten. Ein internationaler Vergleich aus dem Bereich illegale Drogen. Reihe: Angewandte Stress- und Bewältigungsforschung – Band 2. Berlin: Logos Verlag; 2008. 

Wortberg, S., Kuhn, U. & Klein, M. (2012). Soziale Arbeit in der Suchthilfe – Ergebnisse zweier empirischer Studien zum Berufsfeld. Suchttherapie 13, 167 – 174. 

Zito, D. & Martin, E. (2021). Selbstfürsorge und Schutz vor eigenen Belastungen für Soziale Berufe. Weinheim: Beltz Juventa.

Weitere Hinweise

Fünf Prinzipien der alltäglichen Achtsamkeit (nach Kalbheim, 2022): 

  1. Achtsamkeit: Jeden Tag mehrmals innehalten. Beim Autofahren, in der Bahn, beim Duschen… (Symbol: Meine Hand aufs Herz)
  2. Gelassenheit: Menschen und Dinge so sein lassen, wie sie sind. Innere Balance und Standfestigkeit finden. (Symbol: Aus Daumen und Zeigefinger zwei O formen) 
  3. Innenschau: In sich hineinhorchen, die eigenen Bedürfnisse erspüren, Verantwortung übernehmen, zu Fehlern stehen, Schwächen erkennen und belächeln, vor der eigenen Tür kehren. (Symbol: Mit Zeige- und Mittelfinger auf die eigenen Augen deuten)
  4. Optimismus: Eine positive Grundeinstellung pflegen, das halbvolle Glas sehen, nicht das halbleere. Nicht aufgeben, die eigenen Fähigkeiten bewusst und mit voller Kraft einsetzen, um in schwierigen Situationen ans Ziel zu kommen, der Glaube, dass am Ende alles gut werden kann. (Symbol: beide Daumen hoch)
  5. Handeln: tatkräftig zupacken, nicht lange zaudern oder zögern, nachdenken ja, grübeln nein, Pläne umsetzen, Neues ausprobieren, aus Fehlern lernen statt resignieren, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden, sich nicht in Details verlieren. (Symbol: eine Faust machen und loslegen)

Empfohlenes Video zur Weiterführung:

Brenne für Deine Arbeit ohne zu verbrennen“ von Dr. Stefan Junker 

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