Jeder kennt den altgriechischen Gott Dionysos als die für Wein und Rausch zuständige Gottheit, doch es gibt so viel mehr als das darüber zu wissen. Darum geht es im Folgenden. Für einen Suchtforscher und an der Wirkung von Substanzen auf die menschliche Psyche interessierten Psychotherapeuten ist die vertiefte Beschäftigung mit dem Dionysos-Kult zwar irgendwann naheliegend, aber dennoch in der Praxis der kulturhistorisch interessierten Suchtforscher ungewöhnlich, denn sie hat so viel mehr zu bieten als Wein und Rausch.
Für mich brachte der Einstieg in die diesbezügliche Literatur und Forschung eine Abenteuerreise, die viel mehr als die vielleicht zu erwartende Beschäftigung mit Wein, Weib und Gesang bedeutete. Gerade weil der Kult des Dionysos sich mit so vielen Mysterien rund um Wein, Tanz, Erotik und Tod verband, liefert er bis in heutige Zeit Anlass für vielerlei Spekulationen und Vermutungen und wird nie bis in alle Einzelheiten verstanden werden können. Aber die Beschäftigung damit lohnt sich und ich nehme Sie gerne mit auf die Reise zu den Wurzeln unserer abendländischen (Wein-)Kultur.
Herkunft und Erscheinungsformen des Dionysos – von Anbeginn an mehr als Wein und Rausch
Die Zeugnisse der Verehrung des Gottes Dionysos – unter verschiedenartigen Benennungen – erstrecken sich über mehr als zwei Jahrtausende. Aufgrund der langen Präsenz des Dionysos-Kultes im östlichen Mittelmeerraum sind die Variationen und Wandlungen vielfältig. Es kann also nicht von einer homogenen Form der Dionysos-Verehrung und des Verhaltens der Gläubigen ausgegangen werden. Anfangs waren die Feiern um den Gott Dionysos sehr naturnah, später fanden sie überwiegend im urbanen Milieu statt. Eine andere Entwicklung über die Zeit betrifft die Darstellung des Gottes, der anfangs oft als Mann im mittleren Alter, dann als ein bartloser Mann mit sehr femininen Zügen und schließlich in der Spätantike als attraktiver, muskulöser Ideal-Mann abgebildet wird.
Insgesamt wurde der Dionysos-Bacchus-Kult mit über 2.000 Jahren so lange aktiv gelebt, dass es viele verschiedene Kultausführungen gegeben hat, insbesondere da die Mehrzahl der Kulthandlungen nicht schriftlich fixiert waren, sondern bewusst im Verborgenen belassen wurden.
I. Der Wein
Kontinuität als Gott des Weines
Überall in der antiken Welt und tritt Dionysos (oder römisch: Bacchus) als Gott des Weines auf. Überhaupt ist die enge Beziehung zum Wein die Hauptkonstante in den griechisch-römischen Kulten zu Ehren des Gottes. Und dafür ist Dionysos ja auch heute noch bekannt, auch wenn er – wie im Folgenden gezeigt wird – zu verkürzt und zu einseitig als Gott es Weines und bestenfalls noch des Rausches wahrgenommen wird. Dabei stellt gerade das Wesen, die Mythologie und der Kult um Dionysos eine extreme Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit dar, wie sie in der griechischen Antike selten zu finden ist.
Aber zunächst zum Wein: Im Hintergrund der Dionysos-Verehrung steht die überaus große Dankbarkeit der Griechen und später Römer für die Gabe dieser Droge in leicht zu konsumierender Flüssigkeitsform. Da das Rauchen bestimmter Substanzen in der griechischen Antike weitgehend unbekannt war – Cannabiskonsum erwähnt Herodot zwar, aber nur beim Volk der barbarischen Skythen -, muss das Vorhandensein einer kontinuierlich nutzbaren, einfach dosierbaren und intensiv wirksamen Droge wie dem Wein tatsächlich wie ein Geschenk der Götter gewirkt haben. Wenn jedoch das Wesen dieses Gottes sinnentleert und ausschließlich auf den Weinkonsum fokussiert wird, verliert sich seine große mythische und kultische Bedeutung. Dabei dürfte die Wesenheit und Relevanz dieses Gottes in der griechischen Mythologie, aber noch mehr im realen Leben der Menschen der Antike, viel stärker gewesen sein, als sich dies uns heute erschließt. Dionysos war auch alles andere als ein Gott des dumpfen Betrinkens, des sinnlosen Rausches, der eher Intoxikation als Höhepunkt darstellt.
Dionysos im Jahreslauf des Weinanbaus und der Weinherstellung
Die Verehrung des Gottes in dem athenischen Festkalender der Hochantike verlief rings um den Jahreslauf des Weinanbaus, der Weinherstellung und des Weingenusses. Am Beginn der dionysischen Jahreszeit (von Oktober bis März) stand das Fest der Oschophoria. Es fällt in die Zeit der Weinlese. Das zentrale Ritual war die Weihung der Trauben. Ihre Verwandlung von Saft in Wein übergab man damit der Obhut und Aufsicht des Dionysos. Weintrauben – im Unterschied zur Herstellung von Bier und Dattelwein – sind die einzig damals bekannten Früchte, die sich ohne Zutun von Wasser und Fermenten, sozusagen wie von Gotteshand, in ein berauschendes Getränk, den Wein, verwandeln.
Das muss den Menschen in der Antike übernatürlich und gottgesteuert erschienen sein. Im März wurde dann im Verlauf eines weiteren Kultfestes das rituelle Öffnen der Fässer mit dem reifen, trinkbaren Wein gefeiert, das Fest der Anthesterien. Bei den Anthesterien gab es außer Totengedenken und Initationsfeiern für Jünglinge auch Wetttrinken der erwachsenen Männer. Zwischen diesen beiden Festen entwickelten sich nach und nach weitere, bei denen des Dionysos mit Theaterdarbietungen und allerlei Heiterkeiten gedacht wurde. Das Ganze sollte die Heranreifung des Weins positiv und günstig beeinflussen. Da Dionysos auch als Gott, der Masken trug, angesehen wurde, hatte er eine nahe Beziehung zum Theater und den Schauspielern.
Die Entdeckung des Weines
Der Überlieferung nach entdeckten Dionysos und sein Gefährte Ampelos während ihrer Zeit in Nysa in Kleinasien das Geheimnis der Weinrebe, so der antike Mythos. Historisch daran ist zumindest richtig, dass der Weinbau schon vor Griechenland in den östlichen Nachbarregionen, nämlich in Westasien, vor allem im heutigen Irak und im heutigen Iran, bekannt war. Der Überlieferung nach nährten sich Dionysos und Ampelos von den wohlschmeckenden Trauben und genossen die süßen Früchte. Eines Tages aber entlockten sie den Weinreben ihr Geheimnis, dass aus den Überresten der Trauben ein duftender Saft zu fließen beginnt, der als Most gekeltert und durch die alkoholische Gärung zu Wein heranreift. Dieser ist das Tor zur Berauschung und wunderbaren ekstatischen Erfahrungen, die Dionysos den Menschen, die ihm zugetan waren, bald bringen sollte.
Rausch und Ekstase in Zeiten der Sesshaftwerdung
Die Menschen wurden – je nach Siedlungsgebieten – vor 18.000 bis 5.000 Jahren sesshaft. Das Klima hatte sich in der Jungsteinzeit, ab etwa 8.500 v. Chr., deutlich verbessert und brachte im vorderen Orient wärmere Sommer und feuchte Winter. Der Kult um Dionysos kann als eine nachträgliche Reminiszenz an die prähistorischen Zeiten verstanden werden, in denen Naturnähe und Ekstase noch in unverdorbener Form vorhanden waren. Diese Zustände wurden wohl am ehesten durch psychotrope Wirkstoffe aus der Natur erreicht, insbesondere Pilze und halluzinogen wirksame Pflanzen. Aber auch die durch die Sesshaftwerdung neu gewonnenen Optionen zur Berauschung in Form des Weins fließen in den Kult ein.
Allzu wenig ist bezüglich des Dionysos-Kultes bekannt, was die Nutzung der prähistorischen Wirkstoffe (halluzinogene Pflanzen) angeht. Allerdings dürften die berühmten Dionysien mit ihren ekstatischen Tänzen und erotischen Orgien weit über die ausschließliche Wirkung des Weines hinausgehen. Wirkstoffkundige Personen in Bezug auf Naturdrogen waren damals Schamanen, Heiler und Priester. Der Zustand der Ekstase verblasste seit der Sesshaftwerdung für immer mehr und mehr aus dem Alltag der Menschen. Die Sehnsucht nach ihrem Erleben blieb jedoch bis heute lebendig.
Der dionysische Kult als Scharnier zwischen prähistorischer und antiker Welt
Der Dionysos-Kult stellt insofern ein Scharnier zwischen der prähistorischen Welt, in der der Mensch noch ganz Naturwesen war, und der antiken Welt, in der der Mensch mehr und mehr Kulturwesen mit einer sich immer weiter entwickelnden Zivilisation wurde. Der durch die Sesshaftwerdung aufkommende Weinbau schaffte eine hervorragende Möglichkeit, ein dosierbares psychotropes Getränk in großem Umfang und mit angemessener Haltbarkeitsdauer herzustellen.
In dem in der Antike gebräuchlichen Begriff „Gott des ekstatischen Taumels“ verbergen sich die Haupteigenschaften der Gottheit: Rausch und Ekstase! Der Taumel ist durch Bewegung des Körpers genauso herzustellen wie durch den Konsum von Wein. Hier stellt der Kult ein Scharnier zwischen Körper und Konsum dar. Daneben spielt der Enthusiasmus seiner Anhängerinnen eine hervorragende Rolle. Diese strebten nach Vereinigung mit der Gottheit, welche sich wiederum durch eigene Berauschung dem Streben ganz und gar nicht verschloss. Dionysos bietet also zum einen die Chance, den Menschen als Natur- und Kulturwesen zu begreifen, zum anderen auch die sozial-spirituelle Teilhabe an dem Gott durch Hingabe und Verschmelzung.
Latent scheinen viele Motive auf, die im späteren, durch den Hellenismus beeinflussten Christentum wieder auftauchten: Die zentrale Rolle des Weines, die starke Mystik, die Wiedergeburt des Gottes. Insofern war es – wie weiter oben erwähnt – tatsächlich naheliegend, das Christentum als die Religion des wahren Dionysos darzustellen, was jedoch auch das Ende des antiken Dionyos-Kultes beschleunigte.
Der dionysische Kult machte es möglich, zum einen die Verehrung der neuen Errungenschaft (Wein) mit der Erinnerung an die alten Ekstasezustände (Tanz und Naturprodukte) zu verbinden. Die Relikte dieser Kulthandlungen sind bis zum heutigen Tage im Karneval weniger als mehr lebendig geblieben.
Weinbau kam bald nach dem Ackerbau
Schon bald nach der Sesshaftwerdung der Menschen im vorderen Orient mit Ackerbau und Viehzucht als Ernährungsquellen entwickelten sich häusliches Bierbrauen und Weinbau. Damit war die Rolle des Alkohols im Leben der Menschen auf einer neuen Kulturstufe angelangt, nachdem zuvor die Herstellung von Met (Honigwein) oder punktuell auch vergorenen Fruchtweinen bei den nomadisch lebenden Menschen schon verbreitet war. Die neuen Möglichkeiten zum Alkoholkonsum brachten in der Folge auch viele Verhaltensgewohnheiten, Rituale und Mythologien. Der Rausch, der durch den Konsum dieser Substanzen entstand und als übernatürlich erlebt wurde, musste erklärt und verehrt werden, so vermutlich die psychologische Reaktion der Konsumenten. Was lag im Sinne des magischen Denkens näher, als eine Gottheit für die Rauscheffekte und die um den Weinbau herum entstehenden Kulturhandlungen verantwortlich und zuständig zu machen und gleichzeitig die Besonderheiten verschiedener Rauscherfahrungen miteinander in Festen und bei rituellen Anlässen zu verbinden?
Die beiden Getränke Bier und Wein liefern sich bis heute einen Zweikampf in der Gunst der Menschen. Dionysos steht dabei ganz eindeutig für Wein und gegen Bier. Nach und nach entstand um den Wein herum als kulturell neue Droge eine Vielfalt an Ritualen, Erzählungen, Kulthandlungen und Interaktionsprozessen. Die Griechen und Dionysos selbst waren aber nicht – wie die Mythologie rund um den Gott als damals neu entstehende Erzählung glauben machen will – die Erfinder des Weinbaus, sondern übernahmen das entsprechende Wissen und die Kultur von den Völkern im östlichen Mittelmeerraum. Aber einmal in Griechenland angelangt, hat die Kultur des Weinbaus nie mehr wieder aufgehört, wie dies für die meisten Gegenden der Erde – bis auf manche islamische Länder – gilt.
Kleine Geschichte des Weinbaus im Orient
Archäologische Funde weisen darauf hin, dass es Weinbau auch schon in Georgien vor mehr als 7.800 Jahren gegeben hat. Jüngere Relikte von vor etwa 4.000 bis 4.500 Jahren wurden an verschiedenen Orten des Landes ausgegraben, darunter Gefäße, Werkzeuge und Traubenkerne. Eine nähere Untersuchung der Kerne ergab, dass die Reben zu jener Zeit bereits kultiviert waren und keine Wildform mehr darstellten. Es handelte sich dabei um die Sorte Rkatsiteli, die noch heute dort angebaut wird. Die bislang älteste Kelteranlage wurde in Hadschi Firuz Tepe im Zagros-Gebirge im heutigen Iran gefunden. Die Anlage ist nach archäologischen Erkenntnissen 7.000 – 7.400 Jahre alt.
Weinbau ist auch im 5. Jahrtausend v. Chr. in der vorderasiatischen Landschaft Sumer (heute südlicher Irak), dem Land der Sumerer, nachweisbar. Der Weinbau entwickelte eine ähnliche Erfolgsgeschichte wie der Getreideanbau und breitete sich dann im gesamten Nahen Osten aus. Im 4. Jahrtausend v. Chr. bauten auch die alten Ägypter Wein an. Dann kam der Weinbau durch die Handelsbeziehungen im östlichen Mittelmeer auch nach Griechenland. Etwa um 1.700 v. Chr. kultivierten auf Kreta die Minoer erste Edelreben. Einige Jahrhunderte später ist der Weinbau dann auch für das griechische Festland nachweisbar.
Wein ist Kultur – Bier ist Barbarei – Das dionysische Programm
Von besonderem Interesse für die kulturelle, aber auch agrarische Entwicklung des antiken Griechenlands ist der Umgang mit den beiden Alkoholsorten Bier und Wein. Dabei spielt der Dionysos-Kult eine entscheidende Pro-Wein Rolle. Nachdem in der vorminoischen Zeit sich der Ackerbau mit Getreide von Mesopotamien und Kleinasien auch auf das griechische Festland verbreitet hatte, wurde zunächst Bier in den Mittelmeerländern bekannt. Ägypten exportierte sogar Bier nach Griechenland. Auch auf Kreta wurde Bier produziert und getrunken, wie archäologische Funde zeigen (Hirschfelder & Trummer, 2016). Im Laufe der Zeit setzte sich jedoch eine Verachtung für das Gerstengetränk in Griechenland durch. Es wurde mehr und mehr mit Barbarei und Kulturferne gleichgesetzt. Das Wort „Saufen wie die Thraker“ bezog sich auf deren Bierkultur und sollte beweisen, dass ihnen das Saufen und Betrunken werden wichtiger war als Genuss und Kultur, wie dies bei den griechischen Symposien mit Wein zelebriert wurde.
Das Vordrängen der Mykener setzte der bescheidenen griechischen Bierkultur ab dem 15. vorchristlichen Jahrhundert nach und nach ein Ende. Späterhin setzte sich über Jahrhunderte eine bis heute noch erkennbare Spaltung Europas zwischen dem biertrinkenden Norden und dem weintrinkenden Süden durch. Natürlich gab es dabei auch notgedrungene Ausnahmen, wie die römische Weinkolonisierung an Mosel, Rhein und Rhone. Dies war aber nur eine Folge der für die Römer lästigen und aufwändigen Weintransporte aus dem italienischen Mutterland in die Provinzen nördlich der Alpen. Insofern kann man zu Recht von einer Kultur- und Agrarscheide in Europa zwischen Bier- und Weinproduktion sprechen. Die mittelmeerischen Länder waren und sind primär weinerzeugend, während die Länder im Norden und Osten zunächst bier- und später auch schnapserzeugend waren.
Mit dem Vordringen der Mykener begann auch der Siegeszug des Dionysos-Kultes in ganz Griechenland. Anfangs wurde der Weingenuss dabei noch als typisch weiblich dargestellt. Dies traf auch den jungen Gott Dionysos. In seinen Dramen lässt Aiscchylos (525 – 456 v. Chr.) den thrakischen König Lykurgos Dionysos als weibisch und verweichlicht verspotten, weil er dem Wein zugetan ist. Nach und nach wandelt sich das Bild der Bier und Weintrinker ins Gegenteil: Biertrinkende Ägypter werden dann als weiblich verspottet und das Bild des griechischen Kriegers hat sich in das eines weintrinkenden, echten Mannes verwandelt. Auch Platons Ideal der Mäßigung deckt sich mit dem verdünnten Wein trinkenden Kulturmenschen Griechenlands, der beim Symposium philosophiert und genießt, ohne die Selbstkontrolle zu verlieren.
Wein reift – Bier fault: die kulturelle Alkoholscheide der Antike
Für die Ablehnung des Bieres sprechen nicht nur ethnische Unterschiede und kulturelles Elitedenken der Griechen. Auch in ihren Gesundheitsvorstellungen lehnten sie „verfaulende“ Lebensmittel, wie sie den Gärungsprozess beim Bier darstellten (Hirschfelder & Trummer, 2016), ab. Obwohl beim Wein auch eine alkoholische Gärung stattfindet, wurde diese, wohl weil es sich durchgängig um Flüssigkeiten handelt, anders erlebt und bewertet. Dionysos war eindeutig und vollständig für Weinbau und Weingenuss zuständig. Man wird ihn nie beim Bierkonsum sehen. Die strikte Unterscheidung zwischen Wein und Bier in den antiken Kulturen hat unsere Sichtweise auf diese Getränke bis heute geprägt. Auch die Tatsache, dass Alkohol als gemeinsamer Inhaltsstoff und allein entscheidende Ursache der Berauschung anzusehen ist, hat sich erst sehr spät in der Drogen- und Suchtforschung durchgesetzt. So haben sich auch Luthers Tiraden auf den „deutschen Saufteufel“ primär auf das übermäßige Weintrinken in seiner Zeit bezogen, während Bier den Status eines Lebensmittels aufwies.
Der Gott verfügt über einen Antagonisten zur Alkoholintoxikation
Dionysos selbst, bei dem Weinbau und Weinkonsum sehr schnell in den Kult integriert wurden, verfügte nach der antiken Überlieferung über einen Amethyst, der ihn vor allzu starker Trunkenheit schützte. Aus heutiger Sicht also ein antagonistisches Mittel zur Immunisierung der Alkoholwirkung, wie sich dies manche übermäßigen Trinker wünschen. Aber diese Erzählung weist auch darauf hin, dass die Berauschung nicht Hauptziel, sondern ein Mittel zum Zweck der Zielerreichung, nämlich Ekstase und Transzendenz, war. Eine Hilfe zur Selbstregulation beim Ritual, um nicht in die gefährlichen Bereiche der übermäßigen Intoxikation zu geraten. Die Herkunft des Namens Amethyst aus dem Altgriechischen amethystos („dem Rausche entgegenwirkend“) drückt den antiken Glauben aus, dass der Träger eines Amethysts gegen die berauschende Wirkung des Weins geschützt sei. Deshalb herrschte auch der Volksglaube vor, dass ein aus einem Becher aus Amethyst getrunkener Wein nicht betrunken machen könnte.
Ursprünglich ergab sich dieser Aberglaube wohl aus dem Brauch, Rotwein mit Wasser zu verdünnen. Dieser nahm dann eine rötlich-violette – also amethystfarbene – Färbung an und machte tatsächlich langsamer betrunkener als unverdünnter, tiefroter bis fast blauer Wein. Ein weiterer Vorteil dieser Weinschorle bestand darin, dass die Griechen wesentlich mehr davon trinken konnten, bis sie betrunken wurden. Stattdessen konnten sie – insbesondere in der Kombination mit Speisen – die Vorzüge eines lang anhaltenden temperierten Rausches länger genießen. Ein Zustand, der sicher Wiederholung und Nachahmung nahelegte und dieses Verhalten automatisierte, wie aus heutigen lernpsychologischen Theorien einfach ableitbar ist.
II. Staat und Gesellschaft
Bacchanalienskandal – Wie der Gotteskult zur Bedrohung des Staates wurde
Im griechischen Staatswesen, das aus einer Vielzahl einzelner Stadtstaaten bestand, wurde der Dionysoskult trotz seiner unverkennbar naturalistischen und anarchistischen Elemente nicht als Bedrohung der staatlichen Gemeinschaft gesehen. Ganz anders im zentralistischen römischen Staat: Als Bacchanalienskandal wird die Unterdrückung des Bacchus-Kultes im republikanischen Rom bezeichnet, der im Jahre 186 v. Chr. einen Höhepunkt fand. Die Bacchanalien, die aus der griechisch inspirierten Kultur süditalienischer Koloniestädte oder direkt über die von Griechenland beeinflusste Landschaft Etruriens nach Rom gelangt war, verbreiteten sich in weiten Bereichen Roms und Süditaliens im 3. Jahrhundert v. Chr. immer mehr. In Rom selbst wurden in einem Hain in der Nähe des Aventinhügels jeweils am 16. März Geheimtreffen nur von Frauen zu Ehren des Bacchus durchgeführt. Am Folgetag waren dann auch die Männer zu den Feierriten zugelassen.
Man kann davon ausgehen, dass diese Treffen eine immer größere Anziehung vor allem auf die jungen Menschen der Metropole ausübten und viele darauf aus waren, daran teilnehmen zu können und dadurch die Geheimnisse der Geschehnisse ergründen zu können. Die Feiern wurden dann auch bald auf fünf weitere Tage im Frühling ausgedehnt. Die Bekanntheit und Ausbreitung der Feste führte dazu, dass sie schließlich eher den Anschein des Geheimnisvollen hatten, als dass sie tatsächlich sehr geheimnisvoll waren, weil sie immer mehr junge Menschen in ihren Bann zogen.
Das Unwohlsein der Herrschenden rings um die Feste, bei denen nach späteren Aussagen von Geschichtsschreibern „viele Arten von Verbrechen und politischen Verschwörungen geplant“ wurden, führte 186 v. Chr. zu einem Dekret des Senats – dem sogenannten „Senatus Consultum de Bacchanalibus“. Dieser stellte die Durchführung und Teilnahme an den Festen unter schwere Strafen. Dies ergibt sich neben den Quellen in den Geschichtsaufzeichnungen auch aus der Inschrift einer in Kalabrien im Jahre 1640 entdeckten Bronzetafel.
Um den Geheimkult herum entstehen Gerüchte und Verdächtigungen
Die Art und Weise, wie diese Kulte zelebriert wurden, so Rüpke (2006), vor allem das nächtliche Zusammentreffen aus Gemeinschaften von Frauen und Männern, setzte diese in der Wahrnehmung der römischen Eliten dem Verdacht von subversiven, staatsfeindlichen Handlungen aus. Der Verdacht kam bei den Eliten der römischen Gesellschaft auf, dass Personen, die sich heimlich trafen und damit die Öffentlichkeit scheuten, letztlich etwas gegen diese Öffentlichkeit im Schilde führen müssten.
Auch die erotisch-ekstatische Färbung der Zusammenkünfte von Frauen und Männern dürfte der aufstrebenden Staatsmacht ein Dorn im Auge gewesen sein. Die Bacchanalien hatten – sicher nicht zu Unrecht – den Geruch eines Geheimkultes. Die stattgefundenen Exzesse unter Alkoholeinfluss und mit ekstatischem Tanz und sexuellen Handlungen haben sicher zur Dämonisierung und Stigmatisierung des Kultes beigetragen haben. Junge Männer – die inzwischen zahlreich an den Bacchanalien teilnahmen – und Frauen sollten im römischen Staatswesen zu Gehorsam und Anpassung erzogen werden. Der geheimnisumwitterte Kult stand dem aufstrebenden römischen Staatsgebilde mehr und mehr im Weg, da eine starke Armee und hohe Geburtenquoten benötigt wurden. Dafür bedurfte es überschaubarer Strukturen in Familie und Gesellschaft.
Hatten die Dionysos-Kulte in der griechischen Antike schon ansatzweise zu Ablehnung und Verdächtigungen bei den Herrschenden geführt – wie exemplarisch beim thebanischen Königssohn Pentheus -, so waren diese Regungen im antiken Griechenland doch noch schwächer und letztlich auch erfolglos. Pentheus als Machthaber in Theben, der gegen das dionysische Treiben in den Nächten rings um seine Stadt aufbegehrte, wurde schließlich ein Opfer des Kultes, indem er des Nachts von seiner eigenen rasenden Mutter zerfetzt wurde, ohne dass diese ihn erkannte. So berichtet es jedenfalls Euripides in seiner Tragödie „Bakchen“. Ganz anders die Situation einige Jahrhunderte später zu Zeiten der aufstrebenden römischen Republik.
Der römische Geschichtsschreiber Titus Livius (59 v. Chr. bis 17 n. Chr.) liefert im 39. Buch seiner römischen Geschichte „Ab urbe condita“ („Von der Gründung der Stadt an“) eine ausführliche und auch ausgesprochen dramatische Darstellung der Ereignisse rund um die Bacchanalien im frühen zweiten vorchristlichen Jahrhundert.
Der Bacchanalienskandal von 186 v. Chr. in der römischen populären Geschichtsschreibung
Zunächst berichtet Livius, dass die Ausbreitung der letztlich vom Senat unterdrückten Form des Bacchuskultes von einem griechischen Priester ausging, der sich eine Zeit lang in Etrurien (d.h. nördlich von Rom) aufgehalten habe, dann aber nach Rom gezogen sei und dort begonnen habe, für seine nächtlichen Riten Anhänger zu suchen. Livius, der eine für den römischen Staat glorifizierende Geschichtsschreibung unternahm, bedient sich etlicher populistischer Mechanismen, so auch die externalisierende Schuldsuche bei einem Priester aus dem zwar beliebten, aber nicht gleichberechtigten griechischen Ausland.
Zunächst seien es nur einige wenige gewesen, die dieser in seine Mysterien einweihen konnte. Nach und nach aber wuchs ihre Zahl stark an. Dies geschah aufgrund der Anziehungskraft, die der Genuss von Wein und sexuelle Freizügigkeiten, zu denen es im Laufe dieser bacchischen Orgien kam, auf Frauen wie Männer ausübte, so Livius weiter. Jede denkbare Liederlichkeit habe man während der Orgien ausgeübt. Zusätzlich aber auch: Giftmischerei, Urkundenfälschung, Verleumdung sowie alle weiteren möglichen Verbrechen bis hin zu blankem Mord habe man ausgeheckt und dann auch betrieben: „Vieles geschah durch Verrat, das meiste durch Gewalt, doch blieb es geheim, da man die Schreie der Opfer über dem Tosen der Trommeln und Cymbeln nicht hörte“. Die Beschreibung lässt nichts von dem missen, was bis heute zum Klischee einer Orgie aus dieser Zeit gehört und war sicher dazu angetan, negative Stimmung in Bezug auf die Anhänger des Kultes zu verbreiten.
Die Verfolgungen der Anhänger des Bacchus-Kultes treffen mehr als 7.000 Personen
Livius berichtet, dass die Senatoren in Rom mehr als erschrocken waren über das geheime Treiben des Kultes. Sie seien bestürzt und in Panik gewesen. Das erklärt das abrupte und harte Vorgehen in der Verfolgung der Anhänger. Offenbar bestand Sorge um die Integrität des aufstrebenden Staatswesens und die Entstehung einer Geheimbewegung, die immer mehr Anarchie und Sittenverfall verbreitete. Es handelt sich in der Folge um die größte bekannte Verfolgung eines religiösen Kultes in antiker Zeit. Das Ergebnis der Fahndung war über alle Maßen ergiebig. 7.000 Personen wurde eine Verwicklung in die Verschwörung zur Last gelegt. Viele versuchten, aus Rom zu fliehen. Etliche wurden jedoch an den Stadttoren festgenommen.
Livius berichtet auch von vielen Suiziden, um den Verfolgungen zu entgehen. Jene, die lediglich der Kultgemeinschaft angehört hatten, sich aber nachweislich nicht an Mord, Missbrauch und anderer Untat beteiligt hätten, wurden vermutlich bis zum Abschluss der Verfahren in Untersuchungshaft genommen. Die anderen – und damit die Mehrheit – wurden zum Tode verurteilt. Im Falle der Frauen überließ man im Rahmen der „patria potestas“, der väterlichen Macht, die Vollstreckung des Urteils ihren Familien. War von den Verwandten keiner dazu bereit oder fähig, erfolgte eine öffentliche Hinrichtung.
Alsdann wurden die bacchischen Schreine zerstört, nicht nur in Rom, sondern im gesamten römischen Einflussgebiet. Die Verfolgungen und Pogrome dauerten insgesamt fünf Jahre. Auch das römische Militär war an den Maßnahmen beteiligt. Die Verfolgungen der Bacchus-Anhänger gelten auch als die Blaupause der späteren Verfolgungen aus religiösen Gründen im römischen Reich, so der Druiden in Gallien und der Christen im Kernland Italien. Stets haben auch Verschwörungserzählungen und Ängste vor der Zerstörung der staatlichen Ordnung und der Gefährdung der eigenen Macht eine entscheidende Rolle gespielt.
Brot, Wein und Spiele – die Rolle des Staates im Umgang mit den Massen
Der Bacchanalien-Skandal im 2. vorchristlichen Jahrhundert stellt ein wichtiges Beispiel dar, wie sehr Obrigkeiten die Macht orgiastischer Rituale fürchten, insbesondere im Hinblick auf Sitte, Moral und staatliche Ordnung. Die Bedenken gegen den orgiastischen Kult hat es sicherlich schon im antiken Griechenland gegeben, ohne dass sich dies bei der hochgradig zersplitterten Struktur des Landes je durchgesetzt hatte. Behnk (2009) meint, dass insbesondere die Tatsache, dass sich in der mänadischen Tradition ausschließlich Frauen zu nächtlichen Ritualen getroffen haben, Widerständer hervorgerufen haben sollte. Möglicherweise wirkte die Tatsache, dass dieser Kult lange Zeit nur alle zwei Jahre für einige Tage ausgelebt wurde, schützend gegen solche Widerstände.
Die Geschichte des thebanischen Königsohns Pentheus lehrte Bedenkenträgern darüber hinaus, dass sich Einzelwiderstand gegen den Gott und seinen Kult nicht lohnt, sondern im Gegenteil schmerzlich und tödlich endet. Erst die stark durchorganisierte römische Staatsmacht kann es sich leisten, die Gerüchte und Verschwörungserzählungen über den Kult zum Anlass für ein beispielloses Verfolgungsinferno zu nehmen. Der unbequeme und unberechenbare Kult wird zerschlagen und seine führenden Köpfe getötet. Besonders trifft es anschließend Frauen, die keine führenden Rollen in den Vereinen zur Vorbereitung und Durchführung der Bacchanalien mehr übernehmen durften.
Was die Berauschung der Massen angeht, macht die junge Großmacht Rom ähnliche Erfahrungen wie andere große Reiche zuvor, dass diese nämlich ein ambivalentes Phänomen darstellt, was nicht nur zersetzend und anarchisch, sondern auch stabilisierend und prokrastinierend wirken kann. Die Massen werden von Problemen des Staates und der Herrschenden abgelenkt und durch Brot, Wein und Spiele beruhigt und abgelenkt. Ein Prinzip, das bis in die Gegenwart hervorragend funktioniert.
Nach und nach baute der römische Staat ein System der Massenindoktrination zur Kontrolle des Volkes auf, das seinesgleichen sucht. Hierin gingen auch die Bacchanalien auf, die – staatlich gelenkt und kontrolliert – nun in gesteckten Grenzen und in urbanen Anlagen die Massen mit Wein und Spielen versorgten. Der Staat hatte die Kontrolle über Rausch und Ekstase weitgehend übernommen und damit das Wesen dieser Phänomene für alle Zeiten verändert. Die Rolle der anderen ekstatischen Techniken, Tanz und Musik, wurde reduziert oder in andere Kontexte verlagert.
Der Staat übernimmt die Kontrolle über Rausch und Ekstase und zerstört sie damit
Der Staat steht nun, ähnlich wie zuvor schon in ähnlichen Ansätzen in Babylon und in Ägypten, für die Versorgung der Massen mit Lust einerseits und für Disziplinierung andererseits. Die Regulierung von Rausch und Ekstase durch die Herrschenden ist das Bestreben aller Herrschaftseliten bis auf den heutigen Tag und führte letztlich zur Zerstörung der archaischen Rausch- und Ekstaseformen. Die Beruhigung und Betäubung der Massen durch – nun aber staatlich gelenkte – Vergnügungen und Feiern lösten die wilden, anarchischen Orgien der klassischen Antike ab. Nach wie vor wurden die menschlichen Bedürfnisse nach Rausch und intensiven Emotionen angesprochen, aber gleichzeitig auch in reglementierten Grenzen gehalten. Die späteren Gladiatorenspiele – vor allem in den Theatern des Reiches und im Colosseum als größter und wichtigster Veranstaltungsstätte – sind dafür lebendige Beispiele.
Zur Unterhaltung und vermeintlichen Auslösung von massenhafter Ekstase dienten Darbietungen auf Leben und Tod mit Gladiatoren (Gefangenen, Sklaven) und wilden Tieren. Brot und Wein sollten die Zuschauer positiv stimmen und in eine angenehme, lockere und freudige Verfassung versetzen. Das Ganze hatte systemisch die Funktion, die Massen zu beruhigen, von Missständen abzulenken und sich gewogen zu halten. Rebellische Impulse sollten im Keim erstickt werden. Sattheit, Erregung und Berauschung – so hatten die Machthaber schnell gelernt – sind die besten Voraussetzungen zum Machterhalt und zur Disziplinierung der Massen.
Die dionysischen bzw. bacchantischen Kultvereine, die auch schon vor den Verfolgungen von 186 v. Chr. bestanden, wurden kontrolliert und nach und nach mit staatsnahen Priestern und Angehörigen der herrschenden Oberschicht bestückt. Die Umwandlung einer anarchischen Bewegung in eine staatlich regulierte, weitgehend sinnentleerte Feierorganisation vollzog sich in späteren Jahrhunderten immer wieder, so auch bei der Veränderung des Karnevals von einer obrigkeitskritischen Bewegung hin zu einer reinen Feier-, Trink- und Stimmungsmaschinerie. Die Blaupause hierfür war die Geschichte der Zerschlagung und Anpassung der Bacchanalien während der römischen Republik.
Und heutzutage? Immer noch Streben nach Rausch und Ekstase!
Religionspsychologisch sind Dionysien wie auch Bacchanalien als ein rauschhafter Frühlings- und Fruchtbarkeitskult zu verstehen: Das von jedem erlebbare Überwinden der Jahreszeit Winter durch ein erneutes Wachsen von Vegetation bedeutet auch eine Überwindung von Ängsten, Grenzen und Barrieren. Insofern beinhaltet der Kult um Dionysos viel mehr als Wein und Rauch. Immer wieder wurde der Kult in Beziehung zur menschlichen Lebens- und Daseinsfreude und zur Lust an der Lust (Erotik, Sexualität, Musik, Tanz) schlechthin gesetzt. Ekstatisch könnten Dionysien bzw. später Bacchanalien außer durch stundenlanges Tanzen und Musizieren durch den Konsum von Alkohol, vor allem wenn dieser mit psychedelischen Substanzen (halluzinogene Pilze und Pflanzen wie Tollkirschen, Trompetenbaum) vermischt war, geworden sein. Diese Mischzubereitungen waren in der Antike durchaus üblich.
Die dem neuzeitlichen Karneval ähnelnde mehrtägige „Außeralltäglichkeit“ und antirationale Macht von Tanz, Maske, Rollenspiel der Dionysien bzw. Bacchanalien schuf gehobene, bisweilen manisch-ekstatische Stimmung, oft verbunden mit erotischer Lust und sexueller Enthemmung. Diese Qualitäten der Ekstase haben für Menschen seit jeher hohe Attraktivität, insbesondere durch die neurobiologische Funktion des Selbstbelohnungssystems im Nucleus Accumbens („Mandelkern“) des meso-limbischen Systems unseres Gehirns: Essen, Trinken, aber vor allem Substanzkonsum haben dopaminerge Effekt, die als Wohlbefinden und Zufriedenheit empfunden werden und nach Wiederholung verlangen.
Hinzu kommen die endorphin vermittelten Glücksgefühle dieser Substanzen, die zusammen mit den ebenfalls endorphin wirksamen Handlungen in den Bereichen Tanz, Musik und Erotik zu einem überaus attraktiven Gesamtzustand des ekstatischen Glücks führen. Auf der einen Seite steht also das nach wie vor hoch attraktive Glücks- und Ekstasegefühl durch Berauschung, Tanz und Erotik, auf der anderen Seite lauert bei den herrschenden Eliten immer wieder die Angst vor der Zerstörung der Ordnung des sozialen Gefüges.
Staatskrisen durch Ekstasestreben?
Dass Staaten durch den übermäßigen Drogenkonsum ihrer Bevölkerung wiederholt in Staatskrisen geraten sind, wie in vorchristlicher Zeit die römische Republik, lässt sich auch an der Geschichte des „war on drugs“ im späten 20. Jahrhundert unschwer erkennen. Dabei ist es die Angst vor der Angst der Zerstörung des Staates mehr als der eigentliche Drogenkonsum, der die dann heraufziehenden Zwangsmaßnahmen in Drogengesetzen von Babylon bis heutzutage befeuert. Solange Menschen sich nicht das Recht auf Rausch, das ein Naturrecht war und in archaischen Zeiten weitgehend angemessen durch Rituale kanalisiert wurde, zurückerobern, wird das Spannungsverhältnis zwischen dem fürsorgenden, aber auch kontrollierenden Staat und dem nach Lust und Ekstase strebenden Bürger, der aber auch das Risiko der Selbstzerstörung in sich trägt, weiterhin bestehen bleiben.
Aber auch der reale Verlust staatlicher Ordnung durch Substanzen droht. Hier jedoch eher durch übermäßige Repression und das Aufkommen mafiöser Strukturen im Drogenhandel: So wiesen oder weisen Staaten wie Mexico, Guatemala, aber auch Afghanistan, über viele Jahr eine so übermäßige Nähe zu Drogenproduzenten und -händlern auf, dass sie leicht erpressbar und manipulierbar wurden. Die Drogenkartelle sind für das eigene Gewinnstreben bereit, ganze Staaten zu labilisieren und durch Korruption den Beamtenapparat in Polizei und Justiz zu unterwandern. Die Ursachen und Erscheinungsformen der Staatskrisen haben sich über die Jahrhunderte gewandelt. Die Bezogenheit auf Drogen und die mit ihrem Konsum verbundenen Rituale und Erscheinungsformen sind geblieben.
Was bleibt von Dionysos – was wird kommen?
In einem tieferen Sinne kann Dionysos als Streiter für die Freiheit des Rausches, für die Ausschöpfung der Phantasien und das Erlebnis der Ekstase, und damit für die Freiheit des Menschen an sich gelten. Er konnte Glücksbringer und Verderber zugleich sein. Ablehnung der Ekstase und übermäßige gesellschaftliche Reglementierung schaden dem Kult und am Ende auch den Menschen. Das Recht des Menschen auf seine Freiheit an sich selbst und letztlich auf die Möglichkeit, seine engen Ich-Grenzen zu überwinden und Ekstase als Zeichen der Lebensfreude zu erleben, sind ein besonders hohes Freiheitsgut, das sich der Mensch des 20. Jahrhunderts durch Gewinnstreben, Konsumismus, Reglementierung und allerlei politische Winkelzüge weitgehend hat nehmen lassen (vgl. „Deutsche Drogenpolitik im Dornröschenschlaf? – Diachrone Betrachtungen aus der Kultur- und Sozialgeschichte“). Die Ekstase ist im psychologischen Sinne nicht das Werk des Dionysos, sondern das Heraustreten des Charakters des Besessenen in die Gemeinschaft der Mitfeiernden.
Dass ein wohl verstandener Dionysos den Mächtigen Angst machte und es auch heute noch täte, ist allzu naheliegend, widersetzt er sich doch der Formbarkeit und Manipulierbarkeit des Menschen. Langfristig sollten die Menschen anstreben, ihre selbst verschuldete Drogenunmündigkeit durch eine Strategie der Befreiung und des kontrollierten, verantwortungsvollen Umgangs mit Substanzen in eine regulierte Drogenmündigkeit zu verwandeln. Die archaischen Kulthandlungen um Drogen sind dabei ein Fingerzeig, wie dies gelingen könnte.
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