Die Entwicklungen der letzten Tage setzen viele gesellschaftliche Gewohnheiten und vermeintliche Selbstverständlichkeiten außer Kraft. Gemeint sind jetzt nicht die massiven Hamsterkäufe in bestimmten Segmenten der Supermärkte oder die erfreulichen Solidaritätsbekundungen mit älteren, einsamen Menschen. Vielmehr geht es um die psychologischen Hintergründe und Auswirkungen der massenhaften Schließung von Glücksspielhallen und Wettbüros durch die Corona-Krise. Immerhin etwas mehr als 9.000 Standorte alleine von Glücksspielhallen in Deutschland waren 2018 zu verzeichnen. Und dass nunmehr auch in Las Vegas alle Casinos schließen mussten, zeigt nicht nur die Intensität der Bedrohung, sondern auch wie leicht unter gegebenen Umständen „die normative Kraft des Faktischen“ liebgewordene Realitäten über den Haufen wirft.
Die Gesellschaft und die meisten Individuen stehen derzeit unter Stress und verhalten sich entsprechend. Psychologisch gesehen, treten dann die im Alltag üblicherweise unterdrückten Persönlichkeitsanteile von Menschen zutage. Dies zeigt sich u.a. bei den schon erwähnten Hamsterkäufen. Dass in der jetzigen Lage des Home-Office, des allgemeinen Rückzugs und „social distancing“ aber auch Chancen stecken, eröffnet sich auf den zweiten Blick. Entschleunigung, Achtsamkeit, Selbstreflexion und Familienbezug sind nur die ersten Themen, die dabei in den Sinn kommen, und die durchaus nützliche Konsequenzen befördern können, wenn der subjektive Stress nicht überwiegt.
Was aber machen Menschen, die im Alltag schon süchtig sind, und denen jetzt die Ausübung ihrer Sucht unterbunden wird? In den Niederlanden zeigte sich die Angst vor der versiegenden Versorgung mit Cannabis schon in entsprechenden Hamsterkäufen kurz vor der Schließung der Coffee-Shops. Eine allzu menschliche Reaktion, solange die Droge im Alltagsleben des einzelnen so wichtig ist wie Wasser zum Trinken und Brot zum Essen. Es geht hier nun aber vor allem um ein schon eingetretenes Phänomen, nämlich dass Glücksspielverhalten durch die bislang nie da gewesene Schließung aller Spielhallen für Glücksspielsüchtige unterbunden wird. Knapp eine Million Menschen sind in Deutschland von Glücksspielsucht oder problematischem Glücksspielen betroffen. Mehr als zwei Drittel der Besucher von Glücksspielhallen gelten als glücksspielsüchtig. Für Suchttherapeuten und –forscher entsteht nunmehr eine innovative Situation und im therapeutischen Sinne liegt erstmalig auch eine gesamtgesellschaftliche Intervention vor. Verhaltenstherapeutisch bedeutet dies eine echte Auszeit („time-out“) für die Betroffenen, die zunächst zu Entzugserscheinungen (bei Glücksspielsucht im psychischen Bereich: Übellaunigkeit, Aggressivität, Unruhe, Depressivität) führen sollte. Wie sich der Shut-Down der Glücksspielhallen längerfristig auswirkt, bleibt abzuwarten. Immerhin gelten so viele Besucher von Glücksspielhallen und Wettbüros als suchtkrank und damit behandlungsbedürftig, dass der jetzige Shut-Down Spuren hinterlassen sollte. Ob es einzelnen Betroffenen hilft, den Ausstieg aus der Spirale der Sucht jetzt zu schaffen, die Unfreiheit und Zwang bedeutet, bleibt abzuwarten. Ein interessanter Effekt wäre es. Und die ganzen vielen betroffenen Familien würden davon mit profitieren. Schließlich gelangen bislang jährlich nicht mehr als 10.000 der Betroffenen in therapeutische Angebote, etliche weitere schaffen es von alleine, vielleicht weil es nicht anders geht. Aber in den meisten Fällen bleibt die Glücksspielsucht unbehandelt und chronifiziert in vielen Fällen bis zu völliger Verschuldung, familialem Elend und bisweilen auch Kriminalität.
Andererseits wird das Verbot des Betretens der Glücksspielhallen und Wettbüros der Online-Glücksspielindustrie einen enormen Schub geben, sozusagen einen Modernisierungsschub der Glücksspielangebote durch die Corona-Epidemie. Zocken, Wetten und Glücksspielen lassen sich relativ einfach ins Internet verlagern, zum Teil ist dies schon geschehen. Es kann sich nun einen intensiven Wachstumsschub in Richtung Online-Glücksspiele entwickeln. Dadurch werden Glücksspielsüchtige noch mehr vereinsamen und auch die Verschuldung der Betroffenen kann sich noch schneller und tiefer entwickeln. Ein anderes denkbares Szenario ist, dass sich – insbesondere vor der ohnehin schon hohen psychischen Komorbidität der Glücksspielsüchtigen – eine stärkere Verlagerung zu anderen Suchtverhaltensweisen, wie z.B. Alkoholkonsum, ergibt. Diese Suchtverlagerung wird sich vor allem bei Suchtkranken ereignen, die über ein hohes Maß an ungelöstem psychischem Stress und eine exzessive, impulsive Grundpersönlichkeit verfügen.
Dennoch geht es jetzt vor allem darum, die Chancen zu sehen und zu nutzen. Die Corona-Epidemie schafft in kurzer Zeit das, was Prävention und Therapie im Sinne der Verhaltensprävention nie schaffen konnten: Den verhältnispräventiven temporären Ausstieg aus der Illusionsindustrie der modernen „Brot und Spiele“-Gesellschaft. Schon lange ist bekannt, dass exzessives, suchtartiges Verhalten sowohl gesellschaftsstabilisierende („Beruhigung der Massen“) als auch gesellschaftsdestabilisierende („Aufstände der Massen“) Funktionen aufweist. Die jetzige Situation zeigt zumindest – den Betroffenen und der Gesellschaft insgesamt -, dass ein Leben ohne massenhafte Glücksspielhallen, die bevorzugt in benachteiligten Stadtteilen zu finden sind und überwiegend von Männern aufgesucht werden, möglich ist. Wenn danach die Einsicht wachsen würde, dass ein deutliches Weniger an derartigen vermeintlichen „Vergnügungsstätten“ für die Gesellschaft auslangt, wäre schon etwas gewonnen. Die Regulierung des Glücksspiels im Internet ist dagegen ein ganz anderes Thema, das noch lange nicht bewältigt sein wird, einfach weil die Gewinnanreize für die Anbieter so hoch sind.