Jetzt, wo die Corona-Auflagen endlich nach und nach fallen, merken manche Menschen, dass sie sich an Home-Office und Social Distancing mehr gewöhnt haben, als es ihnen recht sein kann. Das Leben in den eigenen vier Wänden entpuppt sich dann mehr und mehr als Isolation und Vereinsamung. Die Situation erinnert an einen Vogel, der zu lange im Käfig saß und nun bei geöffneter Käfigtür nicht in die Freiheit fliegen will. Die – oft sehr starke bis panische – Angst, wieder in das frühere Leben vor der Coronapandemie zurückzukehren, bezeichnet man als „Cave-Syndrome“. Für die meisten Menschen kein Problem, aber für einige durchaus.
Erste Studien berichten, dass bis zu 10% der Menschen dieses Verhaltens- und Erlebensmuster aufweisen. Es wird Cave-In-Syndrom genannt. Gemeint ist damit, dass das Verlassen der gewohnten „Höhle“ für Unsicherheit, Ängste, in einzelnen Fällen sogar Panik sorgt. Was steckt dahinter? Und was hat das Ganze mit Sucht – oder besser Exzessivität – zu tun? Darum geht es im Folgenden.
Inhaltsübersicht
Cave-In-Verhalten hat es schon immer gegeben
Das Verhaltensmuster ist nicht neu. Cave-In-Verhalten im Sinne von angstvollem Rückzug und dann entstehender Isolation hat es schon immer gegeben. Sozial ängstliche, schüchterne Menschen zeigen dieses Verhaltensmuster oft ein Leben lang, weil sie sich zu Hause sicherer fühlen. In den eigenen vier Wänden zu sein, erhöht bei ihnen das Sicherheitsgefühl und reduziert Ängste. Manchmal können sie sich gar nichts anderes mehr als sicheren Ort vorstellen als ihr Zuhause. Erstmals beschrieben wurde das Cave-In-Syndrom bei traumatisierten Menschen, die infolge eines erlittenen Traumas so starke Ängste entwickelten, dass sie ihre Wohnung nicht mehr verlassen konnten.
Die Angst ist immer da
Nach Alan Teo, einem Psychiatrieprofessor in Oregon (USA), hängt das Cave-In-Syndrom mit drei Faktoren zusammen: Der Bildung einer Gewohnheit, alleine zu sein, einer starken Risikowahrnehmung und fehlender sozialer Vernetzung. In der Pandemie haben wir gelernt, unsere Angst einseitig auf das Virus und seine Folgen zu richten. Dass uns aber Vereinsamung, Isolation und dauerhafte Angst psychisch und physisch schädigen, wurde ausgeblendet. Nach der Pandemie müssen die Menschen, sich wieder an soziale Verhaltensweisen gewöhnen. Diese werden sich kurzzeitig fremdartig und ungewohnt anfühlen. Diese kurze Phase zu überwinden, ist eine wichtige Voraussetzung, damit sich kein chronifiziertes Cave-In-Syndrom entwickelt. Denn dann sind Angstgefühle dauerhaft und werden nur durch Vermeidungsverhalten kurzfristig reduziert.
Das Cave-In-Syndrom hängt oft mit Traumatisierung, Sozialangst oder Schizoidie zusammen
Ein starkes Problem entsteht im Alltag bei den Betroffenen, wenn sie darunter sehr leiden und es gerne anders hätten. Dieser Leidensdruck kann sich vor allem dann entwickeln, wenn die Arbeit nicht mehr möglich ist. Die Freunde – falls überhaupt vorhanden gewesen – haben sich oft schon resigniert zurückgezogen, Partner hat es oft nicht gegeben oder die betroffenen Menschen leben stark zurückgezogen nach einer als traumatisch empfundenen Trennung. Die eigenen vier Wände bieten vordergründig Schutz vor Ängsten, bedeuten auf die lange Sicht aber auch soziale Isolation und Einsamkeit. Das nur zu Hause Rumhocken kann also durchaus eine posttraumatische Reaktion oder einer kaschierte Sozialphobie darstellen, die starke Furcht vor anderen Menschen und Sozialkontakten.
Der soziale Rückzug, das Verweilen im Zuhause, bringt dann kurzfristig Linderung der Anspannung und die Angst lässt nach. Auf die längere Sicht bedeutet dies jedoch einen fatalen Effekt, weil sich durch diese Angstreduktion, die verhaltenspsychologisch als negative Verstärkung bezeichnet wird, das Rückzugsverhalten stabilisiert und zur Gewohnheit wird. Die Vermeidung von Sozialkontakten ist dann Gewohnheit und Normalfall. Im Regelfall stellt dies jedoch eine schlechte Gewohnheit dar, weil es die Betroffenen vom sozialen Leben ausschließt und sie darunter auch leiden.
Nur wenige Menschen sind freiwillig alleine und haben kein Interesse am Kontakt mit anderen. Dieses Verhaltensmuster wird als Schizoidie beschrieben und ist von der Sozialphobie zu unterscheiden. Schizoidie bedeutet, sich von anderen Menschen aus eigenem Antrieb zu isolieren und keine oder nur ganz wenige Kontakte zu pflegen. Der Leidensdruck ist gering oder gar nicht vorhanden. Die Vorteile von Sozialkontakten werden nicht wahrgenommen.
Cave-In-Verhalten in pandemischen und postpandemischen Zeiten
Die Corona-Pandemie hat durch die Vorschriften und Regularien nun Cave-In-Verhalten regelrecht gefördert und damit auch neue Leidensgeschichten geschaffen. Die ängstliche Vermeidung sozial sonst üblicher Verhaltensweisen ist den Menschen monatelang antrainiert und zum neuen Normal erklärt worden. Durch die anhaltende Vermeidung sozialer Kontakte („social distancing“) und den Rückzug in die heimische Höhle während und vor allem nach der Pandemie entsteht das sogenannte „Cave Syndrom“ (deutsch: „Höhlen-Syndrom“). Auch zu den Pestzeiten des Mittelalters (vor allem 1349-1353) hat es Cave-In-Verhalten gegeben. Nur gab es das Wort damals noch nicht. Bis zur Hälfte aller Menschen erlebte die Lockdown-Maßnahmen 2020 und 2021 als Stress, aber 8% aller Betroffenen waren zuletzt der Meinung, dass sie am liebsten zu Hause blieben und der Lockdown ihnen der angenehmste Zustand ist.
Hierunter fallen alle Menschen, die schon immer sozialängstlich mit Vermeidungstendenz waren, aber auch jene, die jetzt unter hohem Stresserleben Ängste entwickelt haben. Diese Ängste können sozialer Art sein, sich aber auch auf Furcht vor Ansteckung und Erkrankung beziehen. Es sind also alte und besonders auch neue Ängste und Phobien durch die Umstände des Lockdowns entstanden, z.B. vor Ansteckung allerorten oder Todesängste aufgrund panikartiger Berichterstattung. Besonders Kinder und Jugendliche haben unter den Maßnahmen der beiden letzten Jahre gelitten und dafür oft keine Hilfe und Unterstützung erfahren. Sie werden eines Tages als „Generation Corona“ bezeichnet werden. Ihre Probleme beziehen sich besonders auf die schmerzlichen Einbußen sozialer Kontakter und notwendiger Erfahrungen von Nähe, nonverbal und körperlich. Aber auch Ängste, Depressivität und Einsamkeit werden vielfältig von jüngeren Menschen berichtet. Gerade hierin besteht ein Nährboden für Cave-In-Verhalten, so dass die jüngere Generation hiervon besonders betroffen ist.
Das Eingesperrtsein zu Hause ist auch ein günstiger Nährboden für Verhaltensexzesse und Suchtphänomene
Was bislang in der Erforschung des Cave-In-Syndroms noch wenig betrachtet wurde, sind die Auswirkungen aus Suchtverhaltensweisen im Allgemeinen und Verhaltensexzesse im Besonderen. Dass Menschen in ihrem häuslichen Umfeld, wenn sie dort mehr Zeit als üblich verbringen, sich auch in ihren Verhaltensweisen dort verändern, ist naheliegend. Dies ist im Regelfall auch unbedenklich, etwas wenn man die Menge Kaffee, die man sonst im Büro trinkt, jetzt zu Hause konsumiert. Was sich aus Studien und klinischen Rückmeldungen der letzten zwei schon gezeigt hat, ist, dass exzessive Verhaltensweisen im häuslichen Umfeld bei manchen Menschen zugenommen haben. Dies bezieht sich auf Medienkonsum (Online-Spiele, TV-Serien), Essen, aber auch Alkoholkonsum.
Lieber in der Höhle bleiben, statt rauszugehen?!
Nach der antrainierten Angst vor dem Corona-Virus sind die beschriebenen Reaktionen zunächst vollkommen verständliche Erscheinungen. Man hat gelernt, dass Kontakte mit anderen potenziell gefährlich sind. Geselligkeiten bargen das Risiko, sich selber oder andere anzustecken- und haben es teilweise noch immer. Das soziale Vakuum im häuslichen Umfeld wurde mit neuen Inhalten und Gewohnheiten gefüllt. Dazu gehören auch Verhaltensgewohnheiten, die sich nun als wenig hilfreich, bisweilen als Exzesse herausstellen. Diese sind nicht einfach wieder abzustellen. Nach 24 Monaten Pandemie sitzt das Gelernte so tief, dass diese antrainierte Angst nicht von heute auf morgen wieder abgelegt werden kann. In der Psychologie spricht man mit Blick auf dieses Cave-Syndrom lieber nicht von einer Erkrankung, sondern von einer „Anpassungsverzögerung“. Gemeint ist die damit die langsame Gewöhnung an die neu zurückgewonnene Freiheit im sozialen Bereich.
Erst alte Gewohnheiten loswerden, jetzt neue Gewohnheiten wieder loslassen!
Die Pandemie-Zeit hat die Menschen in ihrer Anpassungsfähigkeit in zweierlei Hinsicht gefordert – und oft auch überfordert. Erst die geliebten Gewohnheiten (Sozialkontakte und vielerlei angenehme Alltagsdinge) aufgeben oder wenigstens erheblich einschränken (siehe „Gesellschaft unter Veränderungszwang – Von der Schwierigkeit, alte Gewohnheiten loszuwerden (Eine psychologische Betrachtung)“) und jetzt wieder die neuen Gewohnheiten aufgeben. Ein Karussell der Gewohnheitsänderungen! Erst mit Unwillen in die vielen Beschränkungen und Zwänge hinein und jetzt wieder raus! Dies ist für viele Menschen erneuter Stress. Auch wenn die meisten Menschen die Aufhebung der Beschränkungen begrüßen, bleibt interessanterweise ein Rest, der dies nicht tut. Auch wenn sie es vielleicht nicht offen äußern, fühlen sich etliche Menschen unter den Lockdown-Bedingungen wohler als in der unberechenbaren Freiheit des Lebens. Wie gerade die psychologische Suchtforschung herausgefunden hat, tun sich Menschen mit der Änderung als angenehm erlebter Gewohnheiten schwer. Dann bedarf es einer stärkeren Änderungsmotivation, einer Steigerung der Achtsamkeit und oft auch Unterstützung von außen.
Die „liebgewonnenen“ Exzesse im Lockdown
Unter den Lockdown-Bedingungen haben sich neben manchen Annehmlichkeiten (weniger Zeit im Stau, mehr Zeit mit dem Partner usw.) eine Reihe ungünstiger Gewohnheiten eingeschlichen. Manche dieser „neuen“ Gewohnheiten neigen zur Exzessivität: Der Wein am Abend (wobei der nicht zwingend „ein“ bedeutet), die Süßigkeiten aus dem Supermarkt, die vielen Online-Spiele auf dem Computer oder Smartphone sind die bekanntesten Beispiele. Wie der deutsche Psychiater Viktor von Gebsattel schon 1954 sinngemäß schrieb: Jede Leidenschaft kann zur Sucht werden. Diese Verhaltensweisen können dann genauso wie der Konsum psychotroper Substanzen unter einen Verlust der Verhaltenskontrolle geraten. Dann werden die Lust darauf und der Antrieb zur Durchführung des Verhaltens so stark, dass wir unseren exzessiven Appetit gelernt haben zu stillen. Unsere heutigen Alltagsleidenschaften sind dafür gut geeignet. Sie sprechen alle unser Belohnungssystem mit seinen dopaminergen Nervenzellen und deren Verschaltungen mit den Endorphinrezeptoren im Frontalhirn an.
Dies bedeutet: Bei der Ausführung solcher Handlungen wie Schokoladeessen, in sozialen Netzwerken surfen, wo wir ge-„liked“ werden, aus Langeweile Online-Pornos schauen, immer werden diese Aktivitäten mit massiven Dopaminausschüttungen begleitet, die uns lernen lassen: Hier gibt es positive Verstärkungen, also wunderbare Gefühle und Erlebensweisen! Das alles läuft natürlich blitzschnell und hochautomatisiert ab. Zu den Umständen, dass diese Verhaltensweisen unter den Lockdown-Bedingungen stark zugenommen haben, zählt zum einen das Mehr an Zeit, was wir zu Hause verbringen mussten (quantitative Bedingung), zum anderen Frustration, Langeweile und Einsamkeit als auslösende Situationen (Stimuli) für dieses Verhalten (qualitative Bedingung). So entwickelt sich zu den durch soziale Ängstlichkeit ausgelösten Cave-In-Vorlieben in vielen Fällen eine Lust an den exzessiven Appetithappen im Lockdown hinzu. Natürlich bezieht sich dieser exzessive Appetit nicht nur auf Verhaltensweisen, sondern auch auf Substanzen, vor allem Alkohol.
Vom Cave-in-Syndrom zum Cave-Out: nun endlich! Aber was, wenn es klemmt?
Endlich wieder raus ins Leben unter Menschen! Für die meisten Menschen wird sich das Ende der Pandemie mit dem Wegfall aller Beschränkungen bestenfalls seltsam anfühlen. Sie werden wieder im Biergarten feiern, im nächsten Advent Glühwein trinken und sich regelmäßig im Wirtshaus oder Club mit Freunden treffen. So weit, so gut. Wenn exzessiv Alkohol konsumiert wird, ist dies immer ein Risiko für akute, negative Folgen (Unfälle, Gewalt und unerwünschte Sexualität). Aber diese Risiken kennt man schon lange und man sollte sie so gering wie möglich halten. Aber wie ist es mit denjenigen Menschen, die sich nicht in die endlich wieder vorhandene postpandemische Freiheit trauen? Angst, Schüchternheit und mangelnde Verhaltenspraxis hemmen sie einerseits, aber auch die angewöhnten exzessiven Verhaltensweisen andererseits werden nun zum Problem. Die jetzt auftretenden Probleme können aber auch zur Chance werden, Ängste und Verhaltensexzesse endlich anzugehen. Dazu im Folgenden einige Hinweise.
Cave-in-Syndrom: Tipps zur Überwindung
1. Machen Sie sich klar, was Ihnen genau Angst macht und sie davon abhält, Ihre Freiheit zu erlangen. Stellen Sie sich vor, wie Sie genau diese Angst früher schon einmal bewältigt haben und wie Sie es jetzt (wieder) schaffen. Was brauchen Sie dazu?
2. Wenn Ihnen zur Bewältigung der Angst Kompetenzen fehlen, über die Sie (derzeit) nicht verfügen, holen Sie sich Hilfe. Dies kann durch eine Beratung oder Therapie geschehen, real oder online.
3. Entwickeln Sie neue Verhaltensroutinen. Verlassen Sie Ihre zu Hause und gehen Sie unter Menschen. Wenn es um Kontakte geht, gehen Sie schrittweise vor. Jeden Tag jemanden anzulächeln kann ein erster Schritt sein.
4. Überprüfen Sie Ihre in der Pandemiezeit entstandenen Verhaltensroutinen in der häuslichen Umgebung. Von was machen Sie zu viel oder was tun Sie zu oft, das Ihnen nicht gut tut? Es kann sich um Verhaltensweisen im Bereich Süßigkeiten essen, Mediennutzung, Alkohol trinken usw. handeln. Machen Sie eine kritische Inventur und entwickeln Sie Verhaltensänderungspläne. Bereichern Sie Ihre Änderungspläne mit Outdoor-Aktivitäten sozialer oder sportlicher Art oder einfach nur Dingen, die Sie alleine gerne draußen tun.
5. Wenn Sie es alleine nicht schaffen oder sich insgesamt Unterstützung wünschen, suchen Sie Hilfe in Form von Psychotherapie oder Verhaltenscoaching. Den ersten Schritt dazu können Sie auch online machen. Auch Telefonseelsorge oder Hotlines sind eine Möglichkeit (z.B. unter 0800-1110222).