Substanzkonsum dient millionenfach zur Reduktion von Angst. Bei chronischem Substanzkonsum, insbesondere wenn auch eine physische Abhängigkeit eingetreten ist, treten oft in der Folge erst oder noch mehr Ängste ein. Diese beziehen sich auf soziale, gesundheitliche und psychische Folgen.
Angst, Substanzkonsum und Sucht stellen eine unterschätzte Konstellation dar. Dementsprechend mangelt es auch in der Fachliteratur an einschlägigen Quellen. Im Folgenden geht es um die Zusammenhänge zwischen Angst und Sucht, die Hintergründe für die häufige Komorbidität beider psychischen Erkrankungen und mögliche Hilfen.
Die Verbindung zwischen Angst und Sucht ist enger und vielschichtiger, als allgemeinhin bekannt. Die Zusammenhänge beziehen sich auf die Lebensspanne vor, während und nach der Suchterkrankung. Bei Kokainabhängigen wurden 15.6% Angststörungen berichtet, davon 12.8% substanzunabhängig und 4.1% substanzinduziert (Gonzalez-Sáiz et al., 2014). Bei abhängigen Glücksspielern waren es 23.8%, die eine klinisch relevante Angststörung aufwiesen (PAGE-Studie: Rumpf et al., 2013). Deshalb ist eine Suchtbehandlung ohne Berücksichtigung des Themas „Angst“ in den betroffenen Fällen nicht sinnvoll und auch nicht effektiv. Gerade das Vermeiden des Themas („Angst? Kenne ich nicht!“) kann ein Hinweis auf eine tiefsitzende, aber vollkommen abgewehrte Angstproblematik sein. Diese extreme Vermeidung („nicht spüren“) von Angst ist gerade bei suchtkranken Männern nicht selten. Aber der Reihe nach.
Zunächst wird eine kurze Darstellung von (1) Ursachen, Funktion und Symptomatik von Angst gegeben, dann erfolgt eine Erläuterung, wie (2) eine Angststörung entsteht und schließlich werden (3) die Zusammenhänge mit Substanzkonsum und Sucht beleuchtet. Abschließend werden (4) konkrete Hinweise für Betroffene zur Problemreduktion bzw. -lösung gegeben.
Inhaltsübersicht
Ursachen, Funktion und Symptomatik von Angst
Angst ist im Regelfall ein Warnhinweis vor Bedrohung und Gefahr. „Echte Männer haben keine Angst“. Dieser Satz gilt schon lange nicht mehr und das ist auch gut so. Denn das Zulassen wichtiger Gefühle kann schützen und die Gesundheit, ja sogar das Leben, erhalten. Es sieht sogar bisweilen sogar so aus, dass sich der Satz ins Gegenteil verkehrt hat. Jungen, die ihre Angst nicht bewältigen können, von ihr beherrscht und terrorisiert werden, sind nicht mehr selten. Und in der Tat finden sich bei Jugendlichen und jüngeren Männern mehr Betroffene von Angststörungen als bei Älteren.
In der AXA Mental-Health Studie 2024 waren es 40% der Frauen unter 34 Jahren und 29% der Männer, die sich als „psychisch erkrankt“ beschrieben. Am häufigsten wurden dabei Ängste und Depressionen genannt. Zuletzt gaben 20% der Frauen ab 18 Jahren 10% der Männer Angststörungen in behandlungsbedürftigem Ausmaß an (Deutsche Erwachsenen Gesundheitsstudie 2, 2012). Die Zahl der Männer, die tatsächlich an Ängsten leiden, dürfte noch weitaus höher liegen, da viele dies nicht offenbaren, oft noch nicht einmal selbst reflektieren. Dabei unterscheidet sich Ängstlichkeit als Persönlichkeitsmerkmal („trait-Angst“) zwischen Menschen deutlich. 10% bis 20% aller Menschen berichten erhöhte Ängstlichkeit, davon mehr Frauen als Männer. Erhöhte Angst als Persönlichkeitsmerkmal ist ein Risikofaktor für die Entstehung von Angststörungen.
Ursachen von Angst im Leben von Jungen und Mädchen
Es gibt in der Tat viele Gründe, Angst zu entwickeln und sich dementsprechend zu verhalten. Im Großen gehören die vielen Bedrohungen der Weltlage dazu. Wie der römische Philosoph und Stoiker Epiktet jedoch schrieb, sind es nicht die Dinge an sich, die uns Angst machen, sondern unsere diesbezüglichen Bewertungen. Die modernen Medien tun eine Menge dazu, besonders den jungen Menschen, kontinuierlich Ängste zu vermitteln. Die Welt wird als gefährdet, fragil und apokalyptisch dargestellt. Dabei gibt es viele positive Aspekte für das Leben im 21. Jahrhundert für junge Menschen. Es bedarf aber einer erheblichen Resilienz, der dauerhaften, hyperemotional aufgeblähten Angstproduktion (bei Corona, Ukraine-Krieg, Demokratiegefährdung etc.) in Medien und sozialen Netzwerken zu widerstehen.
Es ist davon auszugehen, dass Defizite im Bereich des Selbstwerts und der Emotionsregulation für die Zunahme der Angstprobleme bei Jungen und Mädchen entscheidend mitverantwortlich sind. Mädchen haben besonders oft Angst, dass sie wegen ihres Aussehens zurückgewiesen und ausgeschlossen werden. Sie fühlen sich durch perfektionistische Botschaften – insbesondere Bilder – in den sozialen Medien gestresst und entwickeln Ängste, die schnell internalisierten Erwartungen nicht erfüllen zu können.
Bei Jungen spielt es eine Rolle, wie stark und fit sie sind und wie selbstsicher sie auftreten können, um anderen zu gefallen und – besonders von Mädchen – als attraktiv wahrgenommen zu werden. Auch die protektiven Anteile der klassischen Männerrolle (Stärke, Mut, Selbstbehauptung) fallen durch negatives Framing in der Öffentlichkeit, aber auch in der Erziehung und im Bildungssystem, immer mehr weg. Die Diffusion des Männerbildes und die permanente Abwertung allen Männlichen in den Medien, die es den Jungen schwer macht, ihre Entwicklung zu einem selbstbewussten Mann zu gehen, schwächt die Jungen in ihrer psychisch gesunden Entwicklung immer mehr.
Mikroursachen von Angst im Leben von Jungen und Mädchen
Aber auch im Mikrokosmos von Jungen und Mädchen hat sich vieles verändert, was Ängste begünstigt: Abwesende, entfremdete Väter; bindungsschwache, alleinerziehende, gestresste Mütter; Negativbotschaften in Bezug auf Geschlechtsrollen und -identität in der Öffentlichkeit. Für nicht wenige Jungen und Mädchen ist die Welt, in der sie aufwachsen, heutzutage ihnen gegenüber verunsichernd, überfordernd und fremd. Es ist wichtig, hierfür zunächst Sensibilität zu schaffen. Die Ängste von Jugendlichen beziehen sich heutzutage besonders oft auf Versagen in als wichtig erlebten Situationen: Beruf, Sexualität, Partnerfindung, Partnerschaft, Mutter- und Vaterrolle uvm. Bei Frauen im Erwachsenenalter überwiegen Angststörungen mit fast 20% bei Weitem, Männer weisen mit 10% die Hälfte auf. Frauen setzen jedoch (noch) nicht Substanzen im gleich hohen Maße wie Männer zur Angstreduktion ein.
Angst und Gehirn – Entstehung und Funktion
Angst ist eine komplexe Emotion, die in verschiedenen Bereichen des Gehirns entsteht und verarbeitet wird. Ursprünglich ist sie in der Evolution der Tiere eine Schutzemotion vor Fressfeinden und Gefahren. In der modernen Welt kann sie sich in sozialen Kontexten (Beziehungen, Arbeitswelt, Einsamkeit) chronifizieren. Vereinfacht gesagt, läuft es so ab:
- Wahrnehmung: Ein Reiz aus der Umwelt (z.B. ein lautes Geräusch, ein bedrohliches Tier) oder aus dem Körperinneren (z.B. Herzrasen) wird von den Sinnesorganen wahrgenommen.
- Thalamus: Der Thalamus, eine Art “Tor zum Bewusstsein”, leitet die sensorischen Informationen blitzschnell an verschiedene andere Bereiche des Gehirns weiter, darunter vor allem an die Amygdala.
- Amygdala: Die Amygdala, der sogenannte Mandelkern, ist eine wichtige Hirnregion für die Verarbeitung von Emotionen, insbesondere Angst. Sie bewertet die eingehenden Informationen und entscheidet, ob eine Gefahr besteht und aktiviert dann das Stresssystem.
- Angstreaktion: Wenn die Amygdala eine Bedrohung wahrgenommen hat, löst sie eine Angstreaktion aus. Dies geschieht über Verbindungen zu anderen Hirnregionen, wie z. B. dem Hypothalamus und dem Hirnstamm.
- Körperliche Reaktionen: Der Hypothalamus aktiviert das sympathische Nervensystem und damit das Stresssystem, was zu körperlichen Reaktionen und Hormonausschüttungen (Cortisol, Adrenalin, Noradrenalin) führt. Es kommt zur Aktivierung des Körpers in Form von Herzrasen, Schwitzen, schneller Atmung und erhöhter Muskelspannung. Der Körper wird in stresstypische Alarmbereitschaft versetzt (“Kampf oder Flucht”).
- Hippocampus: Der Hippocampus, eine Hirnregion, die für das Gedächtnis zuständig ist, speichert die Angsterfahrung ab. So können wir in Zukunft schneller auf ähnliche Situationen reagieren. Der Prozess wird auch als klassische Konditionierung beschrieben.
- Präfrontaler Kortex: Der präfrontale Kortex, der vorderste Teil des Gehirns, ist für höhere kognitive Funktionen wie Planung, Entscheidungsfindung und Emotionsregulation zuständig. Er kann die Angstreaktion der Amygdala späterhin hemmen oder verstärken. Wenn die akute Gefahr vorüber ist und die Situation als ungefährlich bewertet wird, geschieht eine Abwärtsregulation des Stresssystems.
Angst und Gehirn – Zusammenspiel der Hirnregionen
- Schnelle Reaktion: Die Verbindung zwischen Thalamus und Amygdala ermöglicht eine sehr schnelle Angstreaktion, noch bevor wir die Situation bewusst wahrgenommen haben. Dies ist wichtig für das Überleben in Gefahrensituationen.
- Bewusste Bewertung: Der präfrontale Kortex ermöglicht eine bewusste, nachträgliche Bewertung der Situation und kann die Angstreaktion der Amygdala regulieren. Wenn wir beispielsweise erkennen, dass keine reale Gefahr besteht, kann der präfrontale Kortex die Angstreaktion hemmen.
Angst und Gehirn – Die Rolle der Neurotransmitter
Neurotransmitter, die Botenstoffe im Gehirn, spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Angst. Insbesondere Serotonin, Noradrenalin und GABA sind an der Angstregulation beteiligt. Das Stresssystem im ganzen Körper wird durch Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol aktiviert.
Angst ist sehr leicht und schnell konditionierbar. Über alle Sinne. Der Organismus will sich auf wiederholende Angstauslöser einstellen. Dies kann vor Gefahren schützen, aber so entstehen auch Phobien und chronische Angstprobleme.
Angstsymptome im Überblick
Angst ist eine evolutionär sehr alte Reaktion, die Lebewesen vor Gefahren geschützt, ihre Überlebenschancen verbessert und so die Chance auf Reproduktion (durch Fitness) erhöht hat. Angst ist daher eng mit dem Stresssystem verbunden, kann zu Flucht oder Angriff führen und so das Überleben sichern. Wenn das Stresssystem durch Angstgefühle dauerhaft aktiviert ist, kommt es jedoch auch zu chronischer, dysfunktionaler Angst. Heute leben wir nicht mehr in der Gefahrenwelt der Frühmenschen, aber unsere Angstreaktion läuft rein biologisch immer noch ab wie damals: Wir nehmen einen Angstauslöser wahr.
Angstauslöser haben oft einen sozial gelernten Charakter: Angst vor Versagen, Blamage, Einsamkeit, Verlassenwerden usw. Unser Gehirn (vor allem die Amygdala) verarbeitet die potentiell angstauslösenden Reize blitzschnell, denn es will sich schützen und gut vorbereitet sein. Subjektiv erschrecken wir. Unsere Nebenniere produziert vermehrt die Hormone Adrenalin und Noradrenalin, die uns über die Verarbeitung im Gehirn zur Stressreaktion bereitmachen; Blutdruck und Herzfrequenz steigen an; die Durchblutung der Muskulatur wird erhöht; wir reagieren mit Flucht oder Angriff. Die dritte Variante, der Totstellreflex („freeze“), ist meist die schlechteste Reaktion, spielt aber im modernen Alltag die häufigste Rolle, weil sowohl Flucht als auch Angriff in vielen Situationen unmöglich sind.
Im Folgenden sind die häufigsten möglichen Symptome chronischer Angst aufgelistet:
1. Körperliche Symptome:
- Herz-Kreislauf-System: Herzrasen, Herzklopfen, erhöhter Blutdruck, Schmerzen in der Brust
- Atmung: Kurzatmigkeit, Hyperventilation, Gefühl der Enge in der Brust
- Magen-Darm-Trakt: Übelkeit, Bauchschmerzen, Durchfall, Appetitlosigkeit
- Muskeln: Muskelverspannungen, Zittern, Kopfschmerzen
- Schlaf: Ein- und Durchschlafstörungen, Albträume
- Haut: Schwitzen, Erröten, übermäßige, auch chronische Blässe.
2. Psychische Symptome:
- Sorgen und andauerndes Grübeln über Angstthemen: Übermäßige Sorgen um die Zukunft, die eigene Leistung, die Meinung anderer, etc. Es kann sich ein Grübelzwang entwickeln.
- Plötzliche Angstgefühle und Panik: Plötzliche Angstgefühle, Panikattacken, Gefühl des Kontrollverlusts (Ohnmacht, Kollaps, Herzschlag) und des wehrlosen Ausgeliefertseins.
- Konzentrationsschwierigkeiten: Probleme, sich zu fokussieren, Entscheidungen zu treffen oder Informationen zu behalten. Ständige Ablenkung und Unaufmerksamkeit.
- Reizbarkeit und Nervosität: Gesteigerte Gereiztheit, Ungeduld, innere Unruhe. Schnelles Aus-der-Haut-Fahren.
- Entscheidungsunfähigkeit: Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen, Zögern und Zaudern aus Angst vor Fehlern.
- Gefühl der Überforderung: Das Gefühl, den Anforderungen des Alltags nicht gewachsen zu sein, Gefühl des drohenden Kontrollverlusts.
3. Verhaltensbezogene Symptome:
- Vermeidungsverhalten: Vermeidung von Situationen, die Angst auslösen, z. B. öffentliche Auftritte, Interviews, schwierige Verhandlungen.
- Rückzug und Isolation: Sozialer Rückzug, Vermeidung von Kontakten, auch zu Kollegen und Freunden.
- Übermäßiges Kontrollbedürfnis: Perfektionismus, Mikromanagement, Schwierigkeiten, Aufgaben zu delegieren.
- Aggressives Verhalten: schnelle Gereiztheit, Tendenz zu Wutausbrüchen, Feindseligkeit gegenüber Kritikern.
- Substanzmissbrauch: Menschen mit Angstproblemen beruhigen ihre Ängste oft mit Alkohol oder Drogen. Dies ist kurzfristig erfolgreich, erzeugt aber auch längere Sicht einen Angst-Substanzkonsum-Angst-Kreislauf.
- Körpersprache: Unsichere Körperhaltung, Vermeidung von Blickkontakt, fahrige Bewegungen, Zittern. Aufgrund dieser Symptome entsteht noch mehr Angst, wodurch sich die Symptome weiter verstärken (Angst-Körper-Kreislauf).
Die schützende Funktion der Angst wird durch die Chronifizierung der Angst im Alltag eliminiert. Es gibt zu einer dauerhaften Aktivierung des Stresssystems. Die ständig erlebte Angst wird zu einer Plage, im psychologischen Sinne zu einer Angsterkrankung. Der Betroffene befindet sich im Zustand andauernder Übererregung und produziert auf der Verhaltensebene immer wieder Vermeidungsverhalten. Betroffene sollten diesen Mechanismus kennen, bei sich erkennen, wenn sie betroffen sind, damit sie ihn durchbrechen können oder sich Hilfe und Unterstützung holen.
Formen von Angststörungen
In der klinisch psychologischen Diagnostik wird zwischen verschiedenen Angststörungen (Angsterkrankungen) unterschieden, die einzeln, aber auch kombiniert auftreten können.
- Panikstörung: Wiederkehrende Panikattacken (plötzliche, intensive Angst) mit körperlichen Symptomen (Herzrasen, Schwindel, Atemnot, etc.) und psychischen Symptomen (z. B. Kontrollverlust, Todesangst). Oftmals begleitet von der Angst vor weiteren Attacken oder deren Folgen.
- Agoraphobie: Angst oder Vermeidung von Situationen, in denen Flucht schwierig wäre oder Hilfe nicht erreichbar (z. B. Menschenmengen, öffentliche Verkehrsmittel, weite Plätze). Betroffene vermeiden diese Situationen oft, was zu sozialer Isolation führen kann.
- Spezifische Phobie: Irrationale, übertriebene Furcht vor bestimmten Objekten oder Situationen (z. B. Spinnen, Höhe, Spritzen, etc.). Die Konfrontation mit dem Auslöser führt fast immer zu sofortiger Angstreaktion. Solche Begegnungen werden daher oft weit im Vorfeld vermieden.
- Soziale Phobie: Angst vor sozialen Situationen, in denen man sich blamieren oder negativ bewertet werden könnte. Betroffene fürchten sich vor Bloßstellung oder Ablehnung. In der Konsequenz werden soziale Kontakte vermieden.
- Generalisierte Angststörung (GAS): Anhaltende, übermäßige Sorgen und Ängste bezüglich verschiedener alltäglicher Dinge. Umfassende, nicht spezifische Ängste überwiegen. Betroffene haben Schwierigkeiten, ihre Sorgen und Ängste zu kontrollieren.
- Separationsangststörung (Hyperdependenz): Angst vor Trennung von Bezugspersonen. Tritt häufiger bei Kindern auf, kann aber auch Erwachsene betreffen. Beschreibt dann ein Muster übermäßiger, oft selbstschädigender Abhängigkeit. Ist verbunden mit übermäßiger Angst vor Einsamkeit und sozialer Isolation.
- Selektiver Mutismus (Sprechangst): Unfähigkeit, in bestimmten sozialen Situationen zu sprechen, obwohl in anderen Situationen normale Sprachfähigkeit vorhanden ist. Die angstbesetzten Situationen sind meist solche, in denen Scheitern oder Zurückweisung befürchtet wird (etwa eine fremde Person ansprechen).
Im weiteren Umfeld werden auch die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und die Zwangsstörung oft zu den Angststörungen gerechnet, da auch hier chronische Ängste eine starke Rolle spielen. Betrachtet man alles Angststörungen zusammen, so waren im letzten Jahr ca. 23% der Frauen und 12% der Männer betroffen.
Substanzkonsum zur Angstreduktion
Wenn Menschen in der Frühphase der Entwicklung einer Angststörung Alkohol oder andere psychotrope Substanzen einsetzen, verändern sie ihr Angstgefühl wirksam und schnell. Der Effekt von Alkohol, anderen Sedativa (Benzodiazepine, Opioide) auf die Angstgefühle ist anxiolytisch. Darunter wird eine weitgehende oder vollkommen Auflösung der Angst verstanden. Dies ist für den Betroffenen sehr angenehm. Daher verfestigt sich der Substanzkonsum zur Angstreduktion oft. Auch Stimulantien (Kokain, Amphetamin) können durch ihre erregende und motorische aktivierende Wirkung subjektiv zu einer Ablenkung von Angstgefühlen führen. Obwohl Stimulanzien kurzfristig ein Gefühl der Euphorie und des Selbstvertrauens hervorrufen, das die Angst vorübergehend zu reduzieren scheint, ist die langfristige Wirkung von Stimulanzien auf Angstzustände eher negativ.
Der angstreduzierende Effekt durch Sedativa, der kontingent (zeitnah nach wenigen Sekunden bis Minuten je nach Substanz) einsetzt, wird als negative Verstärkung beschrieben. Dies bedeutet, dass ein aversiver, negativ erlebter Ausgangszustand durch den Substanzkonsum zum Verschwinden gebracht wird. Das Verführerische und Abhängigmachende an diesem Phänomen ist die schnelle und direkte angstreduzierende Wirkung der Substanzen. Lernpsychologisch ist dies als negative Verstärkung des Substanzkonsums unter hoher Kontingenz (schnell eintretende Wirkung) zu verstehen. Durch die hohe Kontingenzwirkung des Substanzkonsums in Angstsituationen etabliert sich schnelle eine feste und hochfrequente Verbindung aus Angsterleben und Substanzeinnahme. Am Ende wird schon aus Angst vor der Angst konsumiert.
Bei einer akuten Angst (insbesondere Panikstörung, starke Phobie) kann es auch durch ärztliche Verordnung zum Einsatz von Benzodiazepinen („Tranquilizer“) kommen. Dies sollte wegen der hohen Suchtgefahr jedoch zeitlich limitiert stattfinden (wenige Wochen). Häufiger werden heutzutage Antidepressiva der dritten Generation (SSRI, SNRI) bei Angststörungen eingesetzt. Diese erzeugen keine Sucht, können aber beim Absetzen Ängste auslösen, wie ein Leben ohne sie funktioniert. Dies sollte ärztlich oder psychotherapeutisch begleitet werden.
Alkohol als Anxiolytikum
Alkohol bringt einen schnellen und wirksamen angstreduzierenden Effekt, wirkt also anxiolytisch (angstlösend). Daher wird der Substanzkonsum als oft unbewusstes Mittel zur Angstreduktion eingesetzt. Dies funktioniert, aber nur kurzfristig, und nur, solange der Alkohol (oder ein anderes Sedativum) im Blutkreislauf ist. Der Substanzkonsum zur Angstreduktion wird besonders häufig von Männern benutzt. Sie kennen das aus Stress- und Bedrohungssituationen, vor allem Kriegen, Kämpfen, Rivalitäten und Mutproben. Aber auch Frauen nutzen die sedierenden und anxiolytischen Eigenschaften sedierender Substanzen (vor allem Alkohol und Benzodiazepine) – und dies inzwischen immer häufiger, vor allem bei sozialen Ängsten, Angst vor Leistungsversagen, stressbedingten Ängsten und bei posttraumatischen Ängsten.
Substanzinduzierte Angststörung
Einzelne Substanzen können im Gehirn des Konsumenten Angstsymptome auslösen. Diese können auch eine Vor- oder Begleitform substanzinduzierter Psychosen sein. Substanzinduzierte (sekundäre) Angststörungen treten insbesondere bei Kokain, Amphetaminen und Cannabis auf. Aber auch bei sehr hohen Dosen von Koffein sind solche Phänomene möglich. Außerdem können Angstsymptome bei Halluzinogenkonsum (LSD, Psilozybe), im Alkoholentzug und bei Entzug oder abruptem Absetzen von Benzodiazepinen auftreten.
Psychogene Ängste (durch psychische Phänomene erzeugt) bei Sucht sind, die Angst von Angehörigen, Vorgesetzten oder Freunden durchschaut zu werden. Diese Angst kann sich bis in extremes Misstrauen (paranoide Tendenz) steigern. Auch die Angst vor einem Rückfall kann extreme Ausmaße annehmen. Es ist wichtig, den hintergründigen Zusammenhang zwischen Angst, Substanzkonsum und Sucht zu erkennen. Diese Ursachenerkennung bezieht sich darauf, dass Substanzkonsum auf Dauer Angst verstärken kann und dass Ängste langfristig die Sucht aufrechterhalten und intensivieren können.
Psychische Komorbidität: Angst und Sucht
Die gleichzeitige Erkrankung an einer Suchterkrankung und einer Angststörung ist leider sehr häufig. Solche psychischen Komorbiditäten sind bei Sucht sehr oft zu finden (vgl. Suchterkrankungen: Medizinisch-psychologische Grundlagen der Entstehung). Die Komorbidität von Angst mit Sucht ist eine der häufigsten. In der Mehrzahl der Fälle tritt dabei die Angsterkrankung vor der Suchterkrankung ein (vgl. Das „Psycho“ im biopsychosozialen Modell der Sucht – die psychologischen Zugänge zur Entstehung und Behandlung). Verschiedene epidemiologische Studien zeigen, dass etwa 25% der Suchtkranken auch unter einer Angststörung leiden. Umgekehrt entwickeln auch ca. 20% bis 25% aller Menschen mit Angststörungen eine Suchtproblematik.
Das gleichzeitige Auftreten zweier oder mehrerer psychischer Störungen wird als psychische Komorbidität bezeichnet. Es ist von besonderem Interesse, welche der Erkrankungen zunächst vorhanden war und welche dies daraufhin entwickelt hat. Da regelhafter Substanzkonsum oft als Selbstheilungsversuch für Angstprobleme eingesetzt wird, überrascht es nicht, dass bei einer Mehrzahl der Fälle die Angstproblematik vor der Suchterkrankung bestand. Obwohl es zu dieser Fragestellung nur sehr wenige Langzeitstudien gibt, ist von ca. 75% aller komorbiden Fälle auszugehen, in denen dies die biographische Reihenfolge darstellte. Als total erlebte Angst kann sich wie Ohnmacht anfühlen. Aber auch die Sucht selbst führt oft in Ohnmachtsgefühle (vgl. Ohnmachtsgefühle, Subtanzkonsum und Sucht (Sucht und Emotionen #8)). Daher ist die aktive Bewältigung von Ohnmachtsgefühle eine wichtige Hilfe bei Angst- und Suchtstörungen.
Angst und Sucht haben noch eine weitere, ganz wichtige Gemeinsamkeit: Sie erzeugen beide Vermeidung. In der Wahrnehmung, im Denken, bei den Gefühlen und auch im Handeln. Die betroffenen Menschen verleugnen zunehmend ihre reale Situation, ziehen sich zurück, entwickeln oft Pseudo-Gefühle, resignieren und verlieren den Kontakt zum realen Leben. Es ist wie eine Spirale nach unten, in der sich Angst und Sucht potenzieren – ein doppelter Teufelskreis, wie es im Folgenden näher erläutert wird.
Gründe für die häufige Komorbidität von Angst und Sucht
- Selbstmedikation: Menschen mit Angstproblemen versuchen oft, ihre Angstsymptome mit Alkohol oder Drogen zu dämpfen. Dies kann längerfristig zu einer Abhängigkeit führen. Die Angstproblematik lässt ohne Substanzkonsum nicht nach, sondern nimmt oft noch zu.
- Gemeinsame Risikofaktoren: Es gibt gemeinsame Risikofaktoren für Sucht und Angststörungen, wie z. B. genetische Veranlagung, traumatische Erlebnisse oder Stress. Dann können beide Problembereiche gleichzeitig oder kurz hintereinander entstanden sein.
- Wechselwirkungen: Suchtmittel können Angstsymptome verstärken, und Angst kann wiederum das Suchtverlangen erhöhen. Dies führt zu unerwünschten Teufelskreisen.
Bedeutung für die Behandlung:
- Gleichzeitige Behandlung: Bei Komorbidität ist es wichtig, sowohl die Sucht als auch die Angststörung gleichzeitig zu behandeln. Die Trennung der beiden Krankheitsbilder verstärkt das jeweils andere.
- Integrierte Therapieansätze: Es gibt einige spezielle Therapieprogramme, die auf die Bedürfnisse von Menschen mit Sucht und Angststörungen abgestimmt sind. Diese finden überwiegend im stationären Bereich, vereinzelt aber auch ambulant statt. Unter www.sucht.de oder www.sucht.org können stationäre Entwöhnungseinrichtungen mit ihren jeweiligen Behandlungsschwerpunkten im Bereich der psychischen Komorbiditäten recherchiert werden.
Faktoren, die den Verlauf beeinflussen:
- Art der Angststörung: Manche Angststörungen, wie z. B. die soziale Phobie und die PTBS weisen ein höheres Risiko für die Entwicklung einer Suchtstörung auf.
- Art der Sucht: Alkohol- und Benzodiazepinabhängigkeit sind häufig mit Angststörungen assoziiert.
- Persönlichkeitsmerkmale: Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Impulsivität oder Neurotizismus können die Wahrscheinlichkeit einer Komorbidität erhöhen.
- Soziale Faktoren: Stress, soziale Isolation und mangelnde Unterstützung können die Entwicklung von Angst und Sucht begünstigen.
Die Sache mit den Teufelskreisen: Einfacher und doppelter Teufelskreis
Unter einem einfachen Teufelskreis wird verstanden, dass eine psychische Krankheit eine andere verstärkt. So kann erhöhter Substanzkonsum langfristig die Angst vor sozialer Blamage oder neuerlicher Traumatisierung erhöhen. Angst und Sucht bilden aber einen doppelten Teufelskreis, der zu einer Verschlimmerung der Einzelsymptomatiken beider Erkrankungen führen kann. Ein doppelter Teufelskreis beschreibt das Zusammenspiel zweier Teufelskreise, die sich gegenseitig verstärken und aufrechterhalten. Dieses Phänomen tritt häufig bei psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen und Suchterkrankungen auf, kann aber auch in anderen Lebensbereichen beobachtet werden.
Beispiele für einfache Teufelskreise bei Angststörung und Sucht:
- Teufelskreis der Angst:
- Auslöser (z.B. Präsentation) -> Angstsymptome (z.B. Herzrasen, Schwitzen) -> Negative Gedanken (“Ich werde versagen”) -> Vermeidungsverhalten (Präsentation absagen) -> langfristig Verstärkung der Angst
- Teufelskreis der Sucht:
- Negative Emotionen (z.B. Angst) -> Drogenkonsum zur Bewältigung -> Kurzfristige Linderung der Angst -> Negative Konsequenzen des Konsums (z.B. Schuldgefühle, soziale Probleme) -> Verstärkung der negativen Emotionen -> erneuter Konsum -> Verstärkung und Chronifizierung der Suchtsymptomatik.
Doppelter Teufelskreis:
- Die Angstsymptome führen zu verstärktem Drogenkonsum, der wiederum längerfristig die Angst verstärkt.
- Die negativen Konsequenzen des Drogenkonsums verstärken die Angst, was wiederum den Drogenkonsum verstärkt.
- Wenn sich Craving und Toleranz infolge der Sucht entwickelt haben, verstärken diese die Angst (vor Entzugssymptomen, sozialer Isolation, beruflichem und privatem Versagen), was zu noch stärkerem kompensatorischem Konsum führt.
Längerfristige Auswirkungen:
- Chronifizierung: Beide Problembereiche (Angst und Sucht) werden chronisch und immer schwerer zu behandeln.
- Eskalation: Die Symptome beider Probleme verschlimmern sich gegenseitig.
- Verlust der Kontrolle: Betroffene fühlen sich hilflos und gefangen in ihren Teufelskreisen. Es kann zu Selbstaufgabe und Resignation kommen. In der Folge entstehen depressive Gedanken, mangelnde Selbstfürsorge und soziale Isolation.
Wie kann den doppelten Teufelskreis aus Sucht und Angst durchbrechen?
- Bewusstmachung: Den Teufelskreis erkennen und verstehen. Innerer Durchbruch zu Hilfe und Veränderung.
- Gezielte Interventionen: Beide Probleme gleichzeitig behandeln (z.B. Psychotherapie gegen Ängste und Sucht).
- Verhaltensänderung: Negative Verhaltensmuster durchbrechen (z.B. Vermeidungsverhalten reduzieren, alternative Bewältigungsstrategien entwickeln).
- Unterstützung: Soziale Unterstützung suchen (z.B. Freunde, Familie, Selbsthilfegruppen).
Wege aus Sucht und Angst
1. Machen Sie sich klar, dass Substanzkonsum ein Angstproblem niemals dauerhaft lösen kann!
Die kurzfristig als Erleichterung eintretende Angstreduktion wird mit späterhin und oft dauerhaft eintretenden Problem (Angstzunahme, Suchterkrankung) teuer erkauft. Es handelt sich also um einen Scheinsieg gegen die Angst. Gehen Sie das Problem als Ganzes an! Sie können Ängste und Süchte am besten gleichzeitig lösen.
(2) Bei unlösbar scheinenden Angstproblemen sollten Sie sich Hilfe holen.
Aus dem Freundeskreis, in Selbsthilfegruppen oder bei einem Psychotherapeuten. Am Ende ist es wichtig, sich der Angst zu stellen und in geschütztem Rahmen Bewältigung einzuüben und Verbesserung oder völlige Heilung zu erreichen. Beides ist möglich und bedeutet echte Selbstfürsorge (vgl. Selbstfürsorge bei Sucht – wichtig, wichtiger, am wichtigsten! (Sucht und Emotionen #9)).
(3) Was bedeutet die Angst in Ihrem Leben, wenn sie chronisch geworden ist?
Machen Sie eine tiefe und gründliche Analyse, welche Botschaft von der Angst ausgeht! Wie konnte sie sich so festsetzen und ausbreiten? Können Sie diese Botschaft verstehen und eine nützliche Konsequenz daraus für sich ziehen?
(4) Vermeidung ist immer nur kurzfristig hilfreich.
Sie reduziert die Angst nicht auf Dauer, sondern verstärkt sie langfristig. Üben Sie, Vermeidung zu vermeiden! Sie sollten es täglich trainieren. An einem Verhalten, das für Sie wirklich relevant ist. Wenn Sie merken, dass Sie ihr wichtigstes Problem angehen können, wird sich dies auch positiv auf andere Probleme auswirken. Sie legen Vermeidung und Prokrastination an die Kette.
(5) Angst und Sucht erzeugen beide Vermeidung und noch mehr Vermeidung.
Sie setzen auf Dauer eine Spirale nach unten in Gang. Stellen Sie sich den Problemen, die Sie haben und die Sie dahin geführt haben, wo Sie jetzt sind. Auch wenn Sie noch so sehr von sich und Ihren Mitmenschen enttäuscht sind (vgl. Enttäuschung – eine bittere und lehrreiche Emotion (Sucht und Emotionen #6)), sollten sie immer wieder aufstehen und weiter an sich arbeiten. Selbstmitleid fühlt sich kurzfristig gut an (vgl. Selbstmitleid – Nicht gut für Suchtkranke?! (Sucht und Emotionen #4)), führt aber längerfristig zu nichts. Mit Mut, Hoffnung und dem Willen zur Änderung sowie der Unterstützung wohlwollender Freunde und fachkundiger Menschen können Sie neue Wege beschreiten und die Probleme lösen. Hoffnung ist eine wichtige Ressource in der Psychotherapie von Sucht und Angst. Hoffnung erfordert aktive Beteiligung am Veränderungsprozess (Hoffnung als Ressource in der Suchttherapie (Sucht und Emotionen #7)).